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Treten wir einen Schritt zurück vom alltäglichen Lauf der Dinge und versuchen, die verstreichende Zeit zu erfahren und ihr eine Befindlichkeit oder Bedeutung abzuringen, sehen wir uns immer weniger im Fluss der Zeit treibend als vielmehr in einem komplexen Netz aus Zeitordnungen gefangen. Diese sind physisch, sozial, kulturell und zunehmend auch technisch, medial und digital. Die Suche nach der eigenen Zeit als Verortung zwischen heterogenen Zeitregimen hat seit Ausbruch der Corona-Pandemie und besonders während des Lockdowns im Frühling ungemein an Virulenz gewonnen. Lena von Goedeke verwandelt für ihre Einzelausstellung die Räume der Galerie in eine Art künstliche Wohnsituation, in der sie ihr inneres Zeitempfinden in installativen Werken sinnlich erfahrbar macht.
Der Ausstellungstitel Static verweist weniger auf einen in sich ruhenden, festen Stand als vielmehr auf eine Regungslosigkeit und einen Stillstand. Er ist der Gegenbegriff zur Beschleunigung, mit der seit Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne Gesellschaft und ihr Fortschritt bestimmt wurde. Als Folge der immer weiter ansteigenden informationstechnischen Beschleunigung prophezeite der französische Philosoph und Medientheoretiker Paul Virilio vor genau dreißig Jahren einen rasenden Stillstand. Der Lockdown dieses Jahres kann als seine Realisierung gesehen werden: Virtuell sind alle Zeiten und Räume verfügbar, doch physisch geraten wir in eine Regungslosigkeit. Diese enorme Spannung übersetzt von Goedeke in eine besondere Materialästhetik. In ihrer Arbeit At the tone the time will be bringt sie die sich unentwegt aktualisierende Auskunft der Zeitansage in einer Zeitung aus Beton zum erliegen. Die Absurdität, eine sich nur in der Gegenwart als sinnvoll erweisende Information im Druck zu fixieren, übersteigt von Goedeke nochmals durch den Guss in massivem Beton. Informationsgeschwindigkeit, Informationsmedium und materieller Träger kommen auf spannungsvolle Weise zusammen und bringen die Paradoxie zum Ausdruck, in der physischen Entschleunigung die digitale Beschleunigung bewältigen zu können. Diesen Aspekt der zeitlichen Verortung greift auch Transmission auf, eine aus 6 Handtüchern bestehende Installation im Verbindungsgang zwischen den Galerieräumen. In den weichen Stoff ist jeweils aus einem Newsticker der Inhalt eines halben Tages zu Beginn der Pandemie gestickt worden. In der textilen Aufbereitung kommt abermals der Informationsfluss zum Erliegen. Zudem greifen die weißen Handtücher die Hygiene-Imperative der Pandemie-Zeit auf.
Alles wird nur noch durch Schichten wahrgenommen, merkt von Goedeke an. Ob es nun die Schutzschicht der Desinfektion, der Maske oder der zusätzlichen Sicherheitsgläser für Smartphones ist, sie werden als Spielarten analoger und digitaler Filter in den Werken der Ausstellung thematisch und in ihrer Materialästhetik erfahrbar. Eine besondere Rolle stellt dabei die Haptik der Oberflächen dar. Während Beton und Frotteehandtuch eine unmittelbar greifbare sinnliche Erfahrung bieten, treten in unserem Alltag Phänomene zunehmend zurück hinter die glatte Oberfläche von Displays und werden zu digitalen Bildern. In ihren Scherenschnitten setzt sich von Goedeke mit virtuellen Texturen auseinander, die aus dem digitalen Abtasten von Oberflächen wie etwa Fotos von Bergen entstehen. Im Papier oder den Filzdecken der Schnittarbeit This Summer überführt sie die digitale Transformation der Wirklichkeit zurück in eine unmittelbare Sinnlichkeit. Die an der Wand hängenden Filzdecken haben eine eigene Körperlichkeit; der Schattenwurf der Papierschnitte ergänzt die virtuelle Tiefe der 3D-Strukturen durch eine unmittelbare physische. Eine weitere Strategie, das Digitale erfahrbarer zu machen, ist die Störung des Datenflusses und seiner Umwandlung der reinen Signale in Bedeutungsgehalte. Durch weißes Rauschen als für unsere Sinne nutzlose digitale Information oder Glitch als fehlerhafte Datenübertragung lässt die Künstlerin in Form von Papierzeichnungen die digitale Verfasstheit unserer Umgebung sichtbar werden. Erst in der Negativität, dem Verlust der Transparenz tritt das Digitale in seiner Eigenart hervor.
Zeit kann im Kontext der Ausstellung nicht mehr als Einheit verstanden werden, wie uns in unserer Sprache der Singular ‚die Zeit’ nahelegt. Unsere Gegenwart ist nicht mehr der reine Augenblick des Übergangs von Zukunft in Vergangenheit. Der Plural der Zeit ist von unterschiedlichen Maßeinheiten der Uhr, des Kalenders und der Algorithmen digitaler Medien geprägt. Grundsätzlich im Widerstreit zu Ordnungen der Skalierung steht hingegen unser inneres Zeitempfinden, das von Goedeke ins Zentrum ihrer Ausstellung rückt. Unsere physische und psychische Eigenzeit sind qualitativ und lassen sich daher nicht quantitativ erfassen, wie der französische Philosoph Henri Bergson bereits Ende des 19. Jahrhunderts argumentierte. Die wahrgenommene Dauer widersetzt sich als reine Intensität allen Maßeinheiten naturwissenschaftlicher Zeitmodelle. Bergson entwickelte aus dem Konzept der Dauer eine Lebensphilosophie und wurde in einer Zeit zunehmender Verwissenschaftlichung und Technisierung zum meistgelesenen Philosophen. Die Spannung zwischen subjektivem Zeitempfinden und objektiver Zeitmessung hat seitdem nicht an Bedeutung verloren. Vielmehr ist sie über einhundert Jahre später durch die zunehmende Mediatisierung und Digitalisierung unseres Alltags nur noch stärker und auch komplexer geworden. Lena von Goedeke zeigt in ihren Arbeiten, wie sehr die rasende und fragmentierte Zeit digitaler Medien die Wahrnehmung einer völlig neuen und andersartigen Dauer häuslicher Isolation grundsätzlich geprägt hat. Der Guss in schwerem Beton und die feine Stickerei auf den Handtüchern nehmen der Information ihre technische Geschwindigkeit. Sie sind Ausdruck der Erfahrung intensiver Dauer. In der Ohnmacht, die Fusionen und Konfusionen unterschiedlicher Temporalitäten sprachlich zu vermitteln, ermöglichen die Arbeiten der Künstlerin eine ästhetische Erfahrung und einen sinnlichen Nachvollzug ihrer ganz eigenen Zeitwahrnehmung.
Die Fotoserie A Long Now kann als ein Leitbild und Zugang zur Ausstellung gesehen werden. Auf den ersten Blick scheinen sie das Messen eines Zeitintervalls in einer Sanduhr wiederzugeben, doch bei genauerem Hinsehen fallen die unmöglichen Zustände auf. Die digitale Manipulation der versiegenden Zeit in der Sanduhr setzt sich über die Gesetze der Physik hinweg. Die Bilder sind die Präsentation einer gefühlten, und nicht die Repräsentation einer messbaren Zeit. Die Komplexität der Zeitempfindung kondensiert hier zu einer konkreteren Aussage: Die Zeit gibt es nicht. Sie muss einer Wahrnehmung sich widersprechender Zeitordnungen Platz machen. Es gilt dabei, sich in dieser Vielheit zu verorten, zu behaupten oder sich ihr gegenüber künstlerisch-ästhetisch zu verhalten. -
Lena von Goedeke – Soil’s Song
Der arktische Boden, mal fest, stark, eisig und hart, dann wieder weich und verunsichernd, auftauender Permafrost, Füße und Bauwerke einsaugend, daneben im dunklen Fels tiefe Wunden, durch die der Erde Rohstoffe entrissen werden; wovon erzählt dieser Boden in Lena von Goedekes Kunst? Von der Erde? Von uns selbst? Von unserem Dasein in dieser Welt?
Lena von Goedeke ist eine reisende Künstlerin, deren feines Empfinden für die Ausformungen und Farben der Natur, für die Beschaffenheit des Erdreichs, für die Erscheinungen von Schnee, Eis, Fels und Kohle sie zu Landschaftserfahrungen von großer Intensität führt, die sie in ihrer Kunst zum Ausdruck bringt. Erfahrungen, die sie in den arktischen Landschaften Spitzbergens macht, der nördlichsten bewohnten Inselgruppe der Welt, wo sich die Sonne im Winter nicht über den Horizont erhebt und die Wetterbedingungen so extrem sind, dass die Technik, falsch eingesetzt, versagt, und der Körper, kaum ist man unachtsam, irreparable Schäden erleidet.
In diese lebensfeindliche Landschaft reiste Lena von Goedeke erstmals 2018 im Rahmen der „Arctic Circle Residency“. Drei Wochen kreuzte sie gemeinsam mit Wissenschaftler*innen und anderen Künstler*innen auf dem historischen Segelschiff „Antigua“ durch die arktischen Gewässer, ehe sie 2019 den Winter in vollkommener Dunkelheit in Longyearbyen verbrachte, der Hauptstadt Spitzbergens. Dort setzte sie im Februar und März dieses Jahres ihre künstlerische Forschung fort, aus der die neuesten Werke der Ausstellung „Soil’s Song“ hervorgingen.
Betrachtet man das breite Spektrum dieser Arbeiten, die Fotografien, Papierschnitte, Installationen, Plastiken und Videos, so wird rasch deutlich, dass es keinesfalls das künstlerische Interesse Lena von Goedekes ist, Landschaften einfach zu zeigen, sie zu dokumentieren, im wissenschaftlichen Sinne Informationen über sie zu vermitteln oder uns mit möglichst spektakulären Bildern einer spektakulären Gegend zu überwältigen. Vielmehr fragt sie nach grundlegenden Voraussetzungen und Möglichkeiten, Natur wahrzunehmen und abzubilden, jenseits von Klischees, und berührt dabei existentielle Dimensionen im Verhältnis von Mensch und Natur. Ausgangspunkt dafür sind ihre eigenen intensiven Erfahrungen, die mit umfangreichen Recherchen zu den bereisten Gegenden einhergehen. Doch wenngleich ihr subjektives Erleben den Werken zugrunde liegt, bewegt Lena von Goedekes Kunst sich doch außerhalb gefühlsbetonter Ausdrucksformen, bei denen empfangene Eindrücke und Empfindungen unmittelbar ins Werk gesetzt werden. Vielmehr arbeitet sie konzeptuell und schafft ihre Werke erst später, zurück im heimischen Atelier in Berlin, wenn nur noch die Erinnerung von den gesehenen Farben des Gletschers oder der empfundenen Beschaffenheit des Bodens erzählt. Hier formuliert sie ihre künstlerischen Fragestellungen und Konzepte, denen die Suche und Recherche nach dem geeigneten Material und der entsprechenden Form folgt. Aus diesem mit aller Konsequenz verfolgten Ansatz erklärt sich die Vielfalt der Materialien und Ausdrucksformen in ihrem Werk, deren verbindende Eigenschaft die große handwerkliche Sorgfalt ist, mit der sie bearbeitet und umgesetzt werden. Im Ergebnis stehen hoch sinnliche Werke, deren Ästhetik bisweilen eine betörende, emotionale Kraft entfaltet, die staunen lassen und den Blick bis ins kleinste Detail hineinziehen, durch das sie sich erst wirklich erschließen.
Beim ersten Blick auf den Papierschnitt „Aerial III“ (Abb. S. XXX) mag man kaum glauben, dass die einzelnen Dreiecke dieses mehrteiligen Werks einzeln mit der Hand ausgeschnitten wurden. Eine Arbeit, die Wochen in Anspruch nimmt und höchste Konzentration und Präzision erfordert. Wir sehen das Landschaftsrelief einer Gegend im Norden Spitzbergens, das umso plastischer wirkt, je weiter entfernt man von der Arbeit steht. Die Darstellung basiert auf objektiv gewonnenen Höhendaten, die Lena von Goedeke in ein geometrisches System übertragen hat, dessen Gitterstruktur technisch-nüchtern anmutet. Und dennoch erkennen wir darin Landschaft, können Berge identifizieren, vielleicht das flache Meer, aber keine weiteren Gegebenheiten, die für das Erleben vor Ort entscheidend sind. Wir erkennen nicht, ob eine Gegend in den Tropen, im Himalaya oder in der Arktis gezeigt wird. Stattdessen erscheint uns die Erde als vermessbare, vektorisierbare geometrische Gestalt, als extreme Reduktion der Wirklichkeit, so wie sie von Sonar, Radar, Lidar und Satellit errechnet und visualisiert wird.
Nähert man sich der Arbeit, so verflacht der plastische Eindruck zunehmend, bis man, direkt davor oder eher seitlich davon stehend, erst wirklich erkennt, dass es sich um ein zweidimensionales Werk handelt. Die Illusion ist dahin, doch offenbaren sich dem aufmerksamen Blick nun die Spuren der Bearbeitung, Fasern des Papiers, winzige Ungenauigkeiten, die der Handarbeit geschuldet sind, und es lassen sich die Anstrengung und Zeit erahnen, die Lena von Goedeke in diese Arbeit investiert hat und die der Darstellungsform im Grunde nicht entsprechen. Problemlos hätte sie die Gitterstruktur aus Metall lasern oder auf andere Weise technisch produzieren lassen können, präziser, schneller, beliebig oft reproduzierbar. Es wäre dann eine Abbildung geworden, ähnlich emotionslos wie die digitalen Daten selbst. So aber spüren wir geradezu die lange Zeit, die sie über das Papier gebeugt damit verbracht hat, Dreiecke auszuschneiden, können erahnen, wie sie dabei in Gedanken noch einmal zu diesem Ort gereist ist, sich an Kälte, Wind, Euphorie, Unsicherheit, Überwältigung erinnernd.
„Aerial III“ spielt mit der Illusion von Dreidimensionalität, mit unserem Staunen über die Täuschung, mit unserer Ungläubigkeit angesichts des handwerklichen Könnens und der Ausdauer der Künstlerin. Hinter diesem Effekt und der sachlichen Darstellung aber liegen als weitere Schichten die Erfahrungen Lena von Goedekes, die wie eine Erinnerung an frühere Zeiten durchscheinen, als man sich die Welt noch nach und nach erfahren musste, und geduldige Hände mit dem Zeichenstift dieses Erfahren nachgefahren und Karten mühevoll in Handarbeit gezeichnet haben. Als es noch weiße Flecken gab. Unbekanntes Territorium.
Längst ist heute die gesamte Welt digital verfügbar. Waren Karten einmal Herrschaftswissen, so kann sich heute jeder mit ein paar Klicks an jeden beliebigen Ort der Welt zoomen. Wir können per Streetview durch fremde Städte schlendern und uns die entlegensten Bergtäler als Relief anschauen, ganz abgesehen von der unendlichen Fülle an Fotos, die wir im Internet zu jedem Ort, zu jeder Sehenswürdigkeit, zu jeder Landschaft finden. Faszinierend. Verheißend. Entzaubernd. Tausendfache Wiederholungen von Klischees. Sind wir angesichts dieser Bilderfluten überhaupt noch in der Lage, einen Ort wirklich zu sehen, wenn wir dort sind? Jenseits all der Bilder, die wir schon im Kopf haben? Indem Lena von Goedeke die vermeintliche Präzision des Digitalen, die wir unserem Verständnis von Welt heute mehr und mehr zugrunde legen, mit handwerklicher Mühe in einer Arbeit vereint, fragt sie nach dem, was landschaftliche Wahrheit eigentlich ist, und lässt genau das Aufscheinen, was sich nie wirklich vermitteln lässt, das subjektive, emotionale Erleben von Natur.
Es ist ein Allgemeinplatz, festzustellen, dass jede Form der Darstellung von Natur eine Abstraktion ist. Jedes Gemälde, jedes Foto, jede Skulptur. Dennoch wurde durch die Kunst, später durch die Fotografie, immer wieder der Anspruch formuliert, die Dinge so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Die Naturwissenschaften wiederum haben ihre eigenen Methoden und Modelle entwickelt, die Wirklichkeit abzubilden. In ihrer Kunst reflektiert Lena von Goedeke diese verschiedenen Zugänge und vermittelt sie mit ihren eigenen Erfahrungen.
Ihre schwarzen Landschaften (Abb. S. XXX) etwa gestaltete sie auf der Grundlage von Kartenmaterial und ihren Erinnerungen. In der Dunkelheit des arktischen Winters offenbarten sich ihr die Berge der Gegend um Longyearbyen, die sie von ihrem ersten Besuch zum Teil schon kannte, nur schemenhaft. Sich langsam vorantastend, immer wieder abgleichend, erinnernd modellierte sie aus Kunststoff die Wandreliefs. Ihr einheitliches, tiefes Schwarz, das zwischen verschiedenen landschaftlichen Oberflächen nicht unterscheidet und Details verschwimmen lässt, vermittelt einen Eindruck von Unklarheit und erscheint in unserer Anschauung als Äquivalent zu Lena von Goedekes Unsicherheit über die genaue Gestalt und Beschaffenheit der Berge vor Ort. So enthält das gewählte Material Eigenschaften, die Lena von Goedekes Erfahrungen entsprechen. Ähnlich verhält es sich mit dem Uranglas in „Exposition“ (Abb. S. XXX), aus dem von Goedeke Abgüsse ihrer eigenen Finger erstellt hat. Es besitzt einen eisig-blauen Schimmer, der der Farbigkeit der Gletscher Spitzbergens nahekommt. An einigen Stellen formen sich aus den Fingern kristalline Strukturen, deren leblose Erstarrung direkt aus der Lebendigkeit der Finger erwächst. Das Glas an sich ist empfindlich, zerbrechlich, zart, gefährdet, so wie die Hände der Künstlerin, denen in der eisigen Kälte der Arktis Leblosigkeit durch Erfrierung droht. Diese gläsernen Finger liegen auf iPads, auf denen Drohnenaufnahmen arktischer Landschaften zu sehen sind. Wieder führt Lena von Goedeke einen technischen Blick und ihren eigenen körperlichen Erfahrungshorizont zusammen. Zugleich scheinen sich die Finger nach der Erde auszustrecken, gierig nach allem zu greifen, was sich unter ihnen zeigt, als diene die Erde nur dazu, von uns ausgebeutet zu werden.
Bei den bisher betrachteten Werken besaßen die verwendeten Materialien bestimmte Eigenschaften, die als Träger von Bedeutung wesentlich für die Werkaussage waren und mit von Goedekes eigenen Erfahrungen in Zusammenhang standen. Ihre fotografischen Arbeiten reflektieren eher das eigene Medium, das bereits auf eine lange Geschichte der Darstellung von Natur zurückblickt. So untersucht etwa „Reverse (Kap Arkona)“ (Abb. S. XXX) fotografische Möglichkeiten, Landschaft abzubilden. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt eine Meeresoberfläche, deren Horizont das Bild exakt in der Mitte teilt. Vor uns sehen wir die dunkle Wasseroberfläche, nahezu schwarz, darüber den hellen Himmel, fast weiß. Ein eigentümliches Flirren liegt über der Ansicht, eine Unschärfe, als sei das Bild stark verpixelt. Auch hier muss man näher herantreten, um die Ursache dafür zu erkennen. Die Aufnahme ist aus senkrechten schmalen Streifen zusammengesetzt, die an den Kanten nicht exakt zusammenpassen, wodurch minimale Verschiebungen in der Darstellung entstehen. Von Goedeke hat dafür das ursprüngliche Foto zerlegt und, in umgekehrter Reihenfolge, neu zusammengefügt. Die Darstellung irritiert, und dennoch erkennen wir problemlos das Meer und den Himmel, und es stellt sich die Frage, was die Ausgangsfotografie anderes gezeigt hätte, welche anderen Details sie vermittelt hätte. Vermutlich keine. Denn was zeigt denn ein Foto einer Meeresoberfläche anderes als eine Meeresoberfläche? Das Foto könnte überall entstanden sein, es könnte historisch sein oder aktuell. Und auch in hundert Jahren, wenn der Meeresspiegel angestiegen ist und Küsten verschluckt hat, würde das Foto noch genauso aussehen. Wenn man aber die Struktur einer Fotografie verändern kann, ohne dass sie dadurch ihre abbildende Funktion verliert, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit eigentlich aussieht, und wie sehr wir zum Verständnis dieser Wirklichkeit auf dieses Medium vertrauen können.
Irritierend in der Anschauung sind auch die beiden Fotografien „Coal Harbour“ (Abb. S. XXX), die in ihrer düsteren Erscheinung im ersten Moment wirken, als seien sie Negative. Die arktische Landschaft Spitzbergens, die wir weiß erwarten, zeigt sich hier schwarz, mit einem Schleier von Kohlestaub überzogen, der beim Verladen der dort geförderten Kohle verweht wurde. Dabei vermitteln die Bilder keine Maßstäblichkeit, es bleibt unklar, ob wir eine weite Landschaft sehen oder ein überschaubares Detail mit kleinen Steinen oder Kohlestücken. Wie schon bei „Reverse“ spielt Lena von Goedeke hier mit Umkehrungen und Gegensätzen, mit positiv und negativ, groß und klein, schwarz und weiß, mit Klischee und Wirklichkeit, mit dem, was wir sehen wollen, und dem, was sich uns tatsächlich darbietet. Lena von Goedekes Fotografien reflektieren das Medium in ihrer Eigenschaft als Filter, der zwischen uns und der Landschaft steht und immer nur durchlässig für bestimmte Aspekte ist; einer Eigenschaft, die im Zeitalter der sozialen Medien auf der Jagd nach möglichst vielen Likes nur noch insoweit eine Rolle spielt, als unsere Smartphones uns zahlreiche Filtereinstellungen anbieten, mit denen wir das perfekte „instagrammable“ Bild aus unzähligen Möglichkeiten selbst erzeugen können. Wie der Sonnenuntergang oder die Gletscherlandschaft tatsächlich aussahen, erscheint dabei ebenso zweitrangig wie das, was die Fotograf*innen angesichts der fotografierten Landschaft gefühlt haben.
In der raumgreifenden Installation „Equipment First“ setzt Lena von Goedeke die Fotografie in Form von großen Vorhängen ein, die eine zerklüftete Gletscherfront zeigen. Vor diesem arktischen Prospekt, der wie ein Bühnenbild den Raum inszeniert, sind Gummistiefel verteilt. Einige stehen noch aufrecht, andere sind umgekippt und zerbrochen, während wiederum andere in den Boden zu schmelzen scheinen. Die Stiefel formte Lena von Goedeke aus ungebranntem Ton und füllte sie anschließend unterschiedlich hoch mit Wasser, Tusche und Tinte. Die Flüssigkeit löste den Ton auf, lief auf den Boden und bildete dabei faszinierende Malereien, die an Lichtbrechungen im Wasser, an Unterwassergebirge, Höhenlinien oder 3D-Scans erinnern.
Als Lena von Goedeke erstmals arktischen Boden betrat, versank sie bis zu den Knien im Permafrostboden, der, verursacht durch den Klimawandel, immer weiter auftaut. Der Boden, der uns keinen Halt mehr gibt, steht sinnbildlich für unser Verhalten gegenüber der Natur, die wir ausbeuten, verändern und zerstören, womit wir uns langfristig unserer Lebensgrundlage berauben. Dabei ist unser Dasein in dieser Welt ohnehin sehr fragil, nur in einem kleinen Bereich der Atmosphäre überhaupt möglich, und selbst dort brauchen wir Kleidung und Technik, um zu überleben. Doch anders als die Stiefel aus Ton, die in der Auflösung letztlich wieder zu dem werden, was sie einmal waren, nämlich Erde, produzieren wir gewaltige Mengen von Kleidung aus Kunststoff, die schließlich als Abfall im Meer landen. So wie die Jacke „Canadian Classics“ (Abb. S. XXX), die Lena von Goedeke mit detailgetreu nachgebildeten Seepocken besetzte, die wie eine Verunreinigung des glänzenden und schimmernden Kleidungsstücks wirken. Wenn wir aber die Natur als Fehler wahrnehmen, und nicht unseren Abfall im Lebensraum der Seepocken, so scheint auch hier unser schräges Verhältnis zur Natur auf.
Lena von Goedekes Arbeiten dieser Ausstellung spannen einen weiten Bogen, der von unserer unmittelbaren, physisch-sinnlichen Erfahrung von Landschaft über verschiedene Formen der visuellen Aneignung und Darstellung von Natur bis hin zu deren Ausbeutung und Zerstörung reicht. Immer geht es dabei um die verschiedenen Möglichkeiten, Natur wahrzunehmen, und um deren Bedeutung für unser Verständnis von Welt. So sind ihre Werke vielleicht auch als Anregung zu verstehen, selber genauer auf das zu hören, was die Natur uns zu erzählen hat, dem Gesang der Erde zu lauschen. Soil’s Song.
Ich danke Lena von Goedeke sehr herzlich für die wunderbar konstruktive, positive, herzliche und vor allem flexible Zusammenarbeit bei der Konzeptionierung, Vorbereitung, Planung und Umsetzung von „Soil’s Song“. Wegen Corona mussten wir die Ausstellung immer wieder verschieben, was letztlich aber dazu führte, dass Lena von Goedeke noch einmal nach Spitzbergen reisen und weitere Arbeiten neu für diese Ausstellung produzieren konnte, worüber ich mich sehr freue.
Ein besonderer Dank gilt den Mitgliedern der diesjährigen Jury des Kallmann-Preises. Aus rund 400 Einsendungen haben Cana Bilir-Meier, Karsten Löckemann, Yvonne Roeb, Michael Sedlmair und Roland Wenninger Lena von Goedeke ausgewählt. Ich danke Britta Rettberg von der Galerie Rettberg in München sowie Susanne Breidenbach von der galerie m in Bochum für ihre Unterstützung, ebenso wie meinem Kollegen Luca Daberto. Ganz besonders möchte ich mich bei der Gemeinde Ismaning bedanken, die uns wie immer großzügig unterstützt hat, sowie allen weiteren Förderern unseres Museums, ohne deren Hilfe es uns nicht möglich wäre, mit dem Kallmann-Preis zeitgenössische Künstler*innen auszuzeichnen, die heute an den Themen arbeiten, die im Zentrum des Schaffens von Hans Jürgen Kallmann standen. -
Die Berliner Künstlerin Lena von Goedeke entscheidet sich 2018 an einer Expedition in die Arktis teilzunehmen. In der Hauptstadt leben zu diesem Zeitpunkt 3,7 Millionen Menschen. Als sie die Planken des Expeditionsschiffes Antigua betritt, sind es noch 35, mit denen die Künstlerin für 17 Tage zusammen in See sticht; am nördlichsten Punkt ihrer eigenen geologisch erfahrenen Präsenz stehend, ist sie mit sich allein. An einem Ort, an dem nur wenige Menschen vorher waren und in einer Umgebung in der es lebensfeindlicher kaum sein kann.
Wissensdrang treibt den Menschen seit jeher an, sich auf den Weg zu machen und Grenzen zu überschreiten, auszuschwärmen und das Unbekannte zu erkunden. Weiße Flecken auf Landkarten motivierten Forschungsreisende in gleichem Maße, wie die Fragen, aus denen sich sämtliche Wissenschaften geschält haben. Der Mensch will wissen. Der Forscher will verstehen und komplementieren. Dazu dringt er in Bereiche und Regionen vor, die als unbekannt oder unerforscht gelten. Der Polarforscher Fridtjof Nansen, der Ende des 19. Jahrhunderts mit der Fram-Expedition in die Arktis zum geografischen Nordpol aufbrach, beschrieb diesen Drang wie folgt:
„Was Menschen in die Polargebiete trieb, war die Macht des Unbekannten über den menschlichen Geist. Sie treibt uns zu den verborgenen Kräften und Geheimnissen der Natur, hinab in die unermesslich kleine mikroskopische Welt und desgleichen hinaus in die unerforschten Weiten des Universums. Sie lässt uns keine Ruhe, bis wir den Planeten, auf dem wir leben, von den tiefsten Tiefen des Ozeans bis zu den höchsten Schichten der Atmosphäre kennen.“
Gerade die Pole unseres Erdballs haben die Expeditoren des auslaufenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts immens umtrieben. So entbrannten unter regem Interesse der damaligen weltweiten Öffentlichkeit regelrechte Wettläufe. Angetrieben vom Bestreben, als erste die geografischen Endpunkte unseres Lebensraumes zu bezwingen und somit als Helden in die Chroniken der Menschheit einzugehen, formten sich zahlreiche Expeditionstrupps, um diese waghalsigen Ziele zu erreichen. Doch neben dem heroischen Überwinden extremer Herausforderungen, motivierte ebenso der Drang nach Erkenntnis. Wo der Mensch neue Regionen erschließt, eröffnet sich ein neues Feld an Forschungsfragen, welche die Verfahren der Beobachtung, Konservierung, Dokumentation und Analyse nach sich ziehen. Neues Wissen birgt jedoch auch das Potential, wirtschaftlich anwendbares Wissen zu generieren, um Profit aus den Expeditionen zu schlagen und somit die Finanzierung der kostspieligen Forschungen zu rechtfertigen. Gerade im Bewusstsein dieses Aspektes stellt sich allerdings auch die Frage, was eine künstlerische Expedition leisten kann?
Sind es Namen wie Alfred Wegner oder Roald Amundsen, die eine Berliner Künstlerin dazu bewegen, sich – auf den Spuren großer Expeditionen und der romantischen Idee eines Abenteuers folgend – in die arktische Polarregion zu wagen? Oder ist es nicht vielmehr die neue Brisanz der Region, die sich durch die glühend geführte Diskussion um den Klimawandel ins neue Bewusstsein einer global orientierten Umweltbewegung rückt? Erderwärmung, das erschreckende Schmelzen der Polkappen, der steigende Meeresspiegel, extreme Wetterperioden – der Mensch diskutiert die Ursachen des klimatischen Wandels und diagnostiziert sich selbst als Ursache für die Veränderung der Umwelt. In der geochronologischen Epoche des Anthropozäns, in der der Mensch dem dogmatischen Streben des Wirtschaftswachstums nach bereit ist, alles zu opfern, erstarkt ein neues Bewusstsein um die Endlichkeit unserer Existenz auf diesem Planeten. Das Wissen darum, dass die terrestrische Oberfläche, die habitable Zone, eine nicht zu stoppende Umformung erfährt, idealisiert die Zustände dieser Regionen zur Zeit ihrer Entdeckung durch den Menschen. Dem Klimawandel entspringt die Prophezeiung, dass das Überleben der Menschheit auf radikale Weise durch Naturgewalten beeinträchtigt wird. Generationen alte, kulturell geprägte Bilder der Erdregionen müssen sich aktuell einem rasanten Veränderungsprozess unterziehen lassen. Das ungewollte – jedoch unausweichliche – Terraforming des Menschen lässt neben den Urwäldern Brasiliens gerade auch die weltweiten Gletscher und die Eisberge des arktischen Polarmeeres verschwinden. Ein Prozess, der zurecht nicht nur bei der jungen Generation der globalen Bevölkerung erschreckende Existenzängste auslöst und weltweite Proteste hervorbringt. Dieses kollektive Bild der Arktis, das innerhalb eines Bruchteils seiner Existenz entstand wird nun in kürzester Zeit der Vergangenheit zugeschrieben und durch aktuelle Bilder und wissenschaftliche Dokumentationen dekonstruiert oder vielmehr aktualisiert. Gerade jetzt, da sich das Bild unwiderruflich wandelt, braucht es zum einen objektive Dokumentationen und Fakten, um die Situation analysieren zu können und zum anderen subjektive Interpretationen, um eine neue kulturelle Verarbeitung und Kontextualisierung zu ermöglichen.
In einer globalisierten Welt verstehen sich viele KünstlerInnen einem Forschungsauftrag verpflichtet, der das Reisen mit Forschungscharakter – die Expedition – als eine Methode impliziert, um diesen Anspruch zu erfüllen. Durch die digitale Vernetzung und die rasanten Informationsflüsse werden universelle Zusammenhänge transparenter und Auswirkungen sowie Kausalitätsketten zunehmend besser verstanden und analysiert. Doch in dieser technisch weitentwickelten Welt, in der Fakten scheinbar mühelos geschaffen und geteilt werden können, gibt es demgegenüber das Bedürfnis einer Emotionalisierung des Diskurses als eine Art Kompensation, um die Faktenflut zu selektieren oder subjektiv einzuordnen. Die künstlerische Praxis, Wissenschaft und Kunst zu fusionieren ist ein Ausdruck dieser Subjektivierung. Die Forschungsreise ist seit jeher Bestandteil der künstlerischen Ausbildung. War beispielsweise im deutschen Klassizismus die Italienreise obligatorisch so ist in einer globalisierten Kunstwelt das Reisen in andere Regionen fast unausweichlich und hat in fast jeder Künstlerbiografie – als Auslandsaufenthalt oder Residency – einen festen Platz. Gezieltes Reisen, um Ideen zu generieren ebenso wie das generelle Interesse an fremden Kulturen sind in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis fest verankert und prägen als Exkurse das künstlerische Schaffen. Darüber hinaus ermöglicht es dem Reisenden, eine kulturelle Verortung seiner selbst und die Überprüfung seiner kulturell geprägten Ansichten und Bilder.
Denn eine Gemeinsamkeit von reinen Forschungsreisen und künstlerisch motivierten Expeditionen ist die Produktion einer visuellen Dokumentation. Gerade die künstlerische Interpretation der Erlebnisse durch Fotografien oder Ähnlichem ist maßgeblich prägend für die spätere Darstellung und Vermittlung der Expedition. Auf diese Weise entsteht ein kulturelles Bild, das medial vermittelt wird und sich in den Köpfen der Menschen verfestigt.
So lässt sich behaupten, dass unser Bild der Arktis zu einem größeren Teil aus populären und ästhetisierten Erzählungen, Abbildungen, Fernsehdokumentationen oder Kinofilmen entspringt, als aus den wissenschaftlichen Aufzeichnungen und Erhebungen beispielsweise vom Verlauf der Eisdrift oder der dortigen Temperatur- und Wetteranalysen. Expeditionen geben den KünstlerInnen die Möglichkeit, authentische Augenzeugenberichte zu schaffen, die gezielt durch den Filter der künstlerischen Praxis einen Beitrag zum Diskurs bieten: Diese subjektivierte Auseinandersetzung mit den faktischen Realitäten schafft eben auch die Möglichkeit eines subjektivierten Zugangs für Menschen, die nicht Teil der Expedition waren oder die neusten Forschungsergebnisse zur aktuellen Situation der arktischen Region kennen. Damit schafft es die Kunst, den Partizipientenkreis des Diskurses zu erweitern. Diese künstlerische Auseinandersetzung, mag sie nun sehr persönlich, intim und selbstreflektierend oder faktenbasiert, dokumentarisch und allgemeingreifend sein, generiert eine Aufmerksamkeit und stellt sich der Debatte.
Neben Lena von Goedeke waren 27 VertreterInnen unterschiedlicher kreativ-schaffender Professionen auf der Antigua versammelt; alle werden sie ein anderes Bild ihrer Erlebnisse aus der Arktis mitbringen. Ob Journalismus, Literatur, Musik, Komposition oder bildende Kunst, die diversen Ansätze werden die facettierten Interpretationen des Erlebten vermitteln und somit ein zeitgenössisches Bild der aktuellen Lage in der arktischen Region mitgestalten und definieren. Sie spiegeln gleichermaßen aktuell relevante kulturelle Diskurse wider und konservieren diese in einem zeitlichen Gesellschaftskontext. KünstlerInnen erschaffen ergänzende Realitäten, die einen Abgleich zu den vorherrschenden Bildern ermöglichen. In diesem Fall erlaubt es die künstlerische Freiheit gesellschaftliche Diskurse zu kommentieren, zu verstärken oder zu sensibilisieren. Dabei können die Bilder und Vorstellungen fiktiver Natur sein – die Debatte und gesellschaftliche Einordnung derselben prägen die Rezeption der Arktis und provozieren eine wichtige Verhandlung dieser. Es geht um die erfahrene Wirklichkeit der Künstlerin und um das, was sie durch ihren Drang nach Wissen an Erkenntnissen gewonnen hat.
Von Goedeke wählte für ihre erste Polarexpedition eine besondere künstlerische Strategie. Sie wusste um ihr medial geprägtes Bild der Polarregion. Daher versuchte sie durch bewusstes Reduzieren von Erwartungen und einer rudimentären inhaltlichen Vorbereitung und Planung der Teilnahme der Arktisexpedition so unvoreingenommen wie möglich zu begegnen. Durch diese Herangehensweise vermochte sie sich neu einzunorden und sich aufgrund ihrer authentischen Erfahrungen ein eigenes Bild der Arktis zu machen.
Von Goedekes Arbeiten manifestieren die reflektierten Eindrücke ihrer Polarreise mit der Antigua. In diesen künstlerischen Produkten und Auswertungen lassen sich ihre Schlüsse dieser Forschungsreise nachvollziehen. Für die Betrachter ihrer Werke werden persönliche Empfindungen, Wahrnehmungserfahrungen, Erkenntnisse und Beobachtungen ablesbar und ein Stück weit erfahrbar. Der Ausstellungsraum, der diese Artefakte beherbergt, wird somit zu einem Begegnungsraum oder Forum und schlägt eine Brücke zu dem Ort, den die Künstlerin stellvertretend für die Betrachter besucht hat. Neben den Digitalfotografien, die sie in situ aufnahm, entstehen objekthafte Kunstwerke erst nach der Expedition. Die Objekte und Bilder berichten von ihren Erfahrungen als Lebewesen in einer Umgebung zu existieren, in der menschliches Leben nur unter extremen Vorkehrungen möglich ist. Eingehüllt in mehrere isolierende Schichten, den direkten Kontakt zur extremen Kälte verwehrend, sind Landgänge und Anlandungen auf Eis vergleichbar mit Weltraumausstiegen auf dem Mond. Die Künstlerin wird zur Terranautin, die in ihrer Schutzhülle lebensfeindliches Terrain durchschreitet und ihre Spuren in der Landschaft hinterlässt. Für kurze Zeit ist sie von der Erde entkoppelt, mit sich selbst allein, bevor sie erneut den Polarkreis überschreitet und in die milde Klimazone zurückkehrt, in die sie ihr eigenes Bild, ihre eigene Realität der Arktis mitbringt. -
Feiner weißer Sand mäandert über die Bodenfläche - die Installation von Lena von Goedeke und Sophia Pompéry verleiht dem Ausstellungsraum hase29 die Atmosphäre einer veränderbaren und zugleich zeitlosen Landschaft. Unter dem Sand verborgene Textfragmente werden im Luftstrom freigelegt oder durch Verwehungen zum Verschwinden gebracht. Alles erscheint flüchtig und fragmentarisch.
Luv und Lee bilden die erste Kooperation zwischen Lena von Goedeke (*1983) und Sophia Pompéry (*1984). Ein gemeinsamer Ausgangspunkt der feinsinnigen, doppelbödigen Arbeiten beider Künstlerinnen besteht in ihrem Interesse an naturwissenschaftlichen Phänomenen. Pompéry und Goedeke beschäftigen sich eingehend mit grenzwertigen Wahrnehmungssituationen: mit einem eigenen Sinn für Absurdität zeigen sie, wie unverlässlich, ambivalent und rätselhaft Wahrnehmung ist und wie sich speziell unsere Resonanzfähigkeit gegenüber Naturprozessen verhält.
"Erst war die Natur Vorbild, heute ist sie zu einem Nachbild von Kunst geworden." (Martin Seel) Die Abgründigkeit von Natur fasziniert seit jeher und bis in die Gegenwart. Gerade heute sind wir - anders in früheren Zeiten – nicht mehr nur teilnahmslose Betrachter*innen, sondern wir beginnen mehr und mehr die Folgen unserer Eingriffe auf dem Planeten Erde zu fürchten und ahnen bereits, was mit der Natur und uns geschehen könnte.
NATUR erscheint in der Installation LUV UND LEE als erratisches Bild, als erhabener Ort einer Intervention, in der die minimalistische Szenerie eine untergründig verstörende Irritation erzeugt. Vor unseren Augen und unter unseren Füssen verwandelt sich „Luv und Lee“ buchstäblich in zwingende Fragen nach uns selbst und unserer Ethik im Umgang mit einer endlos „benutzten“ Natur. .....
Landschaft war schon bei Caspar David Friedrich kein wirklich beruhigender Zufluchtsort. Heute ist die Naturerfahrung eine ganz andere. „Luv und Lee“ zieht die Betrachter*innen tief in ihren Bann: Wie nehmen wir Raum und uns selbst wahr, wenn sich der Boden unter den Füßen bewegt und instabil ist? Kann "Luv und Lee" auch als Dystopie einer unheilvollen Veränderung gesehen werden? „Das Welteis schmilzt, ein gewaltiges Fading-out. - und das erleben wir in einem Tempo, das im Verhältnis zu den langen Zeiten der Erde dramatisch ist“, so gerade Hartmuth Böhme. Alles erscheint in dieser Terra inkognita zwischen Kunst und Natur als flüchtig und fragmentarisch. Doch ein utopischer Rest bleibt: „Die Vermessung der Welt ist verhandelbar, und es ist an uns, die Werkzeuge dafür zu billigen oder etwas ganz anderes damit anzufangen.“ -
„Es heisst, aus der Arktis kommt kein Mensch unverändert zurück. […] Ich bin zurück, aber verändert – in der Arktis bist du ein Fremder, ein Astronaut, überlebensunfähig ohne die teure Kleidung und das Wissen der erfahrenen Menschen dort, du scheiterst schon ausserhalb der Reichweite des Walkie-Talkies; jeder ungefilterte Kontakt mit den Elementen ist ein Einbruch in deine Komfortzone und wirft dich zurück auf das Wesentliche.“
Diese Feststellung formulierte Lena von Goedeke im ersten Blogeintrag über ihre dreiwöchige Reise um Spitzbergen vor circa einem Jahr im Rahmen des Arctic Circle Residency-Programms. 15 Tage davon war sie gemeinsam mit 34 anderen Menschen – darunter Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Komponisten*innen, Musiker*innen, Autor*innen und Journalist*innen – an Board des Großseglers Antigua auf engstem Raum, ohne Kontakt zur Aussenwelt. „Eigentlich hast du dort nichts verloren und nichts zu suchen,“ fährt von Goedeke fort und wirft im Anschluss die Frage auf, wie sich diese tiefgreifende Erfahrung mitteilen lassen könne? Auf ihrer Reise hat Lena von Goedeke etwa 200 GB Material und Daten gesammelt. „Diese Reise wird meine Arbeit und mein Selbstverständnis als Künstlerin auf Jahre beeinflussen und ich freue mich darauf, an die Arbeit zu gehen.“ Die Resultate dieser Eindrücke beider Reisen und Aufenthalte nördlich des Polarkreises sind aktuell in mehreren Ausstellungen zu sehen, an denen Lena von Goedeke beteiligt ist, eine davon hier im Kunstverein Recklinghausen: „Memory Leaking“.
Der Ausstellungstitel greift auf den Begriff „memory leak“ – zu deutsch: Speicherleck – aus der IT-Branche zurück. „Memory leak“ bezeichnet einen Fehler in der Speicherverwaltung eines Computerprogramms, der dazu führt, dass ein Teil des Arbeitsspeichers zwar belegt wird, diesen jedoch weder freigibt noch nutzt. Arbeitsspeicher – hier treten die Analogien zum nördlichen Polargebiet deutlich zu Tage – ist ein nur in endlicher Menge verfügbares Betriebsmittel, das einem Programm auch nicht ohne weiteres wieder entzogen werden darf, da es im schlimmsten Fall zu einem Betriebsabsturz kommen kann. Der Titel „Memory Leaks“ koppelt zudem die Analogie von Speicherleck und Polschmelze mit dem Motiv des Verschwindens von Erinnerung und der Erinnerungsstücke. Erinnerungen sind – wie faktisch die Existenz der Pole, der Gletscher, des gesamten Ökosystems – flüchtig. Details – mitunter ganze Ereignisse und Strukturen – gehen verloren oder sind nicht mehr verfügbar.
Der permanente Versuch, Dinge vollständig zu kontrollieren und die Grenzen des Verfügbaren zu verschieben, sei, so der Soziologe Hartmut Rosa, kennzeichnend für unser Zeitalter. Das zentrale Bestreben unserer Zeit gelte der Vergrößerung der eigenen Reichweite, des Zugriffs auf die Welt. Diese verfügbare Welt ist jedoch, so Rosas These, eine verstummte, mit ihr gibt es keinen Dialog mehr. Gegen diese fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und Welt setzt Rosa die „Resonanz“, als Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. [/one_half][one_half]Mit diesen Resonanzen beschäftigt sich Lena von Goedeke, ihre Arbeiten selbst können als solche gelesen werden.
Der Ausstellungstitel samt der Arbeiten verweisen auf die hybride Vernetzung von heterogenen Entitäten und auf eine massiv durch menschliche Einflussnahme vorangetriebene Gefahr der dauerhaften Zerstörung und Vernichtung. Die Ausstellung zeigt künstlerische Ergebnisse dessen, was Lena von Goedeke vor Ort erfahren und erlebt, was sie so nachhaltig beeinflusst und geprägt hat. Ihr gelingt es, uns als Publikum, die von ihr gesammelten Eindrücke und Gedanken mit ihren künstlerischen Arbeiten hier im Kutscherhaus nachdrücklich auf verschiedene Weise erfahrbar zu machen.
In der unteren Etage befindet sich ein handgefertigter Schnitt, eine Landscape. Die zugrundeliegende Gitterstruktur erinnert an eine digitale Terrainvisualisierung und stellt damit zugleich ein Erschließen wie auch Erschaffen der Welt durch Technik dar. Es ist eine Art Anverwandlung der Welt und gleichzeitig eine Referenz auf sie, jedoch kein Abbild. Als Abbilder der Realität können die beiden Schwarz-Weiß-Fotografien gelesen werden, die Aufnahmen von Gletscherfronten zeigen und einen bestimmten Moment porträthaft festhalten und auf einen Sehnsuchtsort verweisen. Die Welt als Sehnsuchtsort thematisiert auch eine plastische Arbeit, die einen Handschuhabguss aus Keramik enthält. Als Sehnsuchtsort deshalb, da diese Welt nicht greifbar, unwirtlich ist. Ohne Schutzausrüstung ist der Mensch dort nicht überlebensfähig. Wie bei dem Keramikhandschuh spielt auch bei der Arbeit aus radioaktivem Glas die Schutzausrüstung und die Menschenfeindlichkeit der Umgebung eine Rolle. Der Handschuhabguss der vorigen Arbeit ist als Negativ im Glas festgehalten als wäre der schützende Mantel im ewigen Eis festgesetzt gewesen. Auch hier zeigen sich Spuren und Veränderungen, die Einwirkungen des Handelns vor Ort und der äußeren Einflüsse werden sichtbar.
In der oberen Etage treffen wir wie unten auf einen weiteren handgefertigten Schnitt, der aus reflektierendem Gewebe, wie wir es von Sicherheitsausrüstungen kennen, gefertigt wurde und ebenfalls landschaftliche 3D-Gitterstrukturen erzeugt. Zudem hat Lena von Goedeke dort mit Equipment first eine raumgreifende, ephemere Arbeit installiert, die über den gesamten Ausstellungszeitraum im Wandel begriffen ist. Vor einer „Gletscherfront“ stehen zunächst weiße, ungebrannte Keramiken in Form von Gummistiefeln, die mit schwarzer Tusche und Wasser gefüllt sind. Mehr möchte ich an dieser Stelle noch nicht verraten. Nur soviel: Unbedingt wiederkommen, um die Transformation der Objekte und des Raumes und seiner Wirkung zu erfahren.
Wie ich bereits sagte: Die Ausstellung ist eine multimediale Installation, in der zwischen schwindelerregendem Seegang, massiven Gletscherfronten und delikaten Keramiken die Erlebnisse und Erfahrungen Lena von Goedekes während ihrer Reisen auf Spitzbergen und durch die arktische See nachempfunden werden können und uns alle zum Denken und Handeln anregen sollten. -
Lena von Goedekes Arbeiten sind Komplizen und Botschafter der Natur. Sie zeigen Natur, als Landschaften, Berge und Meer, Sand und Gestein; sie orientieren sich an Natur, ahmen ihre mannigfaltigen Gesichter nach, wie das Glitzern von Eis, die Wärme von Holz oder die spröde Trockenheit von Geröll; sie berichten von Natur, von ihrer unbändigen Härte und entwaffnenden Schönheit; sie vermitteln zwischen ihr und dem Betrachter und verschweigen dabei nicht die große Distanz, die sich zwischen ihn und das gedrängt hat, was an unberührtem Terrain auf der Erde noch übrig sein mag.
Unser zivilisatorisches Verhältnis zu Natur und die Frage danach, wo und wie wir leben, in einer Zeit in der es neben der analogen längst eine zweite, digitale Welt gibt, ist Lena von Goedeke ein Anliegen und Kern ihrer künstlerischen Überlegungen. Dass es sie für ihre künstlerische Arbeit immer wieder in die Arktis, einen der entlegensten Orte der Welt, zieht, stellt ihr künstlerisches Werk in eine überaus prominente Tradition.
Ausgerechnet als Mitte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung in Frankreich an Fahrt aufnimmt und die Kluft zwischen einer als „ursprünglich“ wahrgenommenen Natur und der Lebenswirklichkeit der Menschen immer größer wird, macht sich eine Gruppe junger Maler auf, verlässt das städtische Paris und proklamiert und praktiziert in Barbizon die Malerei „plein air“. Sind Lena von Goedekes Reisen jenseits des Polarkreises ein eben solcher Reflex auf die immer größer werdende Entfernung zwischen menschlicher Zivilisation und unberührter Natur? Eine Suche nach einem Nullpunkt, das Drücken einer Reset-Taste in Anbetracht zunehmender Entfremdung?
Drei Wochen lang ist Lena von Goedeke im Herbst 2018 im Rahmen der The Arctic Circle Residency mit dem historischen Segelschiff Antigua von Spitzbergen aus durch das arktische Meer gekreuzt, hat die lebensfeindliche Witterung dort hautnah erlebt und die Leere und Stille von Orten ausgehalten, an denen der Mensch eigentlich nichts zu suchen hat. Die Erfahrungen, die Lena von Goedeke dort machte, zählen zu den prägendsten ihres Lebens, wie sie selbst sagt.
Arktische Gefilde haben seit den frühen Arktis- und Antarktisexpeditionen um 1900 viele Künstler angezogen und inspiriert. Der ZERO-Begründer und Licht-Künstler Heinz Mack ließ sich um 1960 nicht nur von der Reinheit des Lichts in der Arktis inspirieren, sondern schuf direkt vor Ort auf Grönland mit „Licht-Blumen in der Arktis“ (1976) eine Installation aus Aluminiumskulpturen in der Landschaft. Ein solches Arbeiten mit natürlichem Licht und leerem Raum, das dem Rausch des ungefilterten Natureindrucks nachgibt und ein von der Faszination des Erlebens inspiriertes spielerisches Experimentieren anstößt, das frei von klimakritischen Intentionen bleibt, ist heute, in Zeiten von Fridays For Future, in denen eine ganze Generation auf die Barrikaden geht und ein massives Umdenken im Umgang mit unserem Planeten fordert, kaum noch denkbar.
Für Lena von Goedeke begann vor Ort die Arbeit im Sehen und Denken, die Umsetzung der Werke begann jedoch erst später. Zu extrem war das Erlebnis und zu körperlich anstrengend die Härte der Umgebung. Lena von Goedeke arbeitet konzentriert, nicht impulsiv. Sie lässt die Eindrücke wirken, saugt sie mit außerordentlicher Sensibilität auf und arbeitet dann, mit brillanter Klarheit und Intelligenz an ihrer Kunst. Wer ihr Werk kennt, der weiß um ihren scharfen Blick, ihre Fähigkeit, Knackpunkte unserer Lebenswelt in ihren Skulpturen, Papierarbeiten, Zeichnungen und Installationen so auf den Punkt zu bringen, dass sie ein Nachdenken über zentrale Themen unserer Zeit anregen. Nach ihrer Reise in die Arktis sind ihr zahlreiche solcher Arbeiten gelungen. Ausgangspunkt ist das persönliche Erlebnis der Künstlerin, aber das, was sie ansprechen, greift tiefer. Es geht um das Verhältnis unserer Zeit zu Landschaft und Natur, um unmittelbare und durch technisches Equipment gefilterte Wahrnehmung und verschiedene Ebenen unserer Existenz, analog und körperlich, auf dem Boden der Tatsachen, oder digital und immateriell, im Überall und Nirgendwo globaler Datenströme. Dabei ist es immer wieder faszinierend, wie frei in der Auswahl der Mittel die Künstlerin an ihre Werke herangeht. Sie arbeitet gattungsübergreifend; das Material, das sie für ihre Kunst nutzt, folgt ihrer Idee, nicht umgekehrt.
So ergibt sich ein absurd vielschichtiges Kaleidoskop an Werkstoffen, das von Aspirin und Uranglas über Gewebe mit reflektierender Beschichtung bis hin zu Fotografie auf großen bedruckten Stoffbahnen reicht – Lena von Goedeke ist eine Meisterin des Materials. Die Feinheiten der materiellen Beschaffenheit der Werke sowie ihre akkurate Bearbeitung zu betrachten, ist ein Genuss. Sie sucht und prüft die verschiedensten Rohstoffe, Objekte und Substanzen, bis sie ein Material gefunden hat, mit dem sie ihre Vision des Kunstwerkes umsetzen kann – das kann sie, wie bei „On a molecular level we never touch“ (2019), bis zu einer Glashütte in Tschechien führen.
Diese Sorgfalt in Auswahl und Bearbeitung des Materials bringt Werke hervor, die bis ins Detail durchdacht sind und im Original betrachtet werden wollen. Sie zu dokumentieren und über Fotos und Beschreibungen zu vermitteln, ist ein nahezu unmögliches Unterfangen.
So schließt sich in ihrem Arbeitsprozess der Kreis: Aus einer unmittelbaren Erfahrung der Künstlerin entstehen Werke, die sich zu einem unmittelbaren Erfahrungsfeld für den Betrachter verdichten. Sie sind keine Übersetzung oder Dokumentation dessen, was die Künstlerin erlebt hat, sondern entfalten ihre ganz eigene Wirkkraft, aus ihrem Material heraus, ihrer Form und der Thematik, auf die sich die Motive beziehen.
Ein Beispiel sind die monumentalen Schnitte aus der Serie „Lot“. Ihre dreidimensional wirkenden Gitterstrukturen zeigen Landschaftsformationen und sind teils in reflektierendem Gewebe gearbeitet. Diese Arbeiten und ihr Spiel mit Perspektive, Bewegung und Licht zu betrachten, ist faszinierend und setzt ein Nachdenken über Landschaft und unseren Zugang zu ihr in Gang, der in vielen Fällen heute nicht mehr unmittelbar, sondern über technische Hilfsmittel erfolgt, sei es über Satellitenbilder, Navigationssysteme oder aber modernste Technik zum Abtasten von Oberflächen wie sie in der Wissenschaft oder Raumfahrtechnik Verwendung finden. Hier geht es um das Zusammentreffen von Naturerfahrungen, die wir eigentlich unmittelbar körperlich machen müssen – mit allem was dazu gehört, Witterung, Licht, Weite, Temperatur – auf der einen Seite, und virtuellen Erlebnissen auf der anderen Seite, in denen fast ausschließlich unsere Augen und Hände zum Einsatz kommen, der restliche Körper jedoch unbewegt bleibt.
In welch absurdem Paradoxon der Mensch dabei gefangen ist, zeigt sich besonders, wenn er in spektakulären Landschaften unterwegs ist. Trauriges Zeugnis sind die zahlreichen Fälle, in denen Menschen beim Schießen eines Selfies verunglückt sind. Das Bedürfnis, das Erlebte unmittelbar mit der virtuellen Gemeinde zu teilen und zur Schau zu stellen, lässt Grenzen überschreiten, Gefahren ignorieren und sorgt dafür, dass die Wahrnehmung von der Frage geleitet wird, wie sich ein Erlebnis optimal in Bildern und Videos übertragen lässt.
An diesem Punkt setzen Lena von Goedekes fotografische Objekte „Connect I“ (2019) und „Connect II“ (2019) an, die überwältigende Ansichten arktischer Landschaft zeigen. In das Glas, mit dem sie gerahmt sind, ist in der einen Arbeit das WLAN-Symbol, in der anderen Arbeit der Text „I‘M NO ROBOT“ eingebracht. Lena von Goedeke bezieht sich hier auf eben diesen absurden Spagat, den wir vollziehen, wenn wir physisch unterwegs und zugleich digital vernetzt sind und mit dem sie in der Arktis selbst immer wieder konfrontiert war. Während der körperlichen Erfahrung, der Unbill der Witterung ausgesetzt zu sein, in der totalen Einsamkeit, in die man mit dem Expeditionsschiff vorgedrungen war, stellte sich immer wieder die Frage, wie diese Erfahrungen, am besten in Echtzeit, dokumentiert und geteilt werden könnten. Als Lena von Goedeke an einer Stelle auf scheinbar festem Boden plötzlich im geschmolzenen Permafrost versank, galt ihr erster Gedanke ihrer Kamera und nicht der unheimlichen Tatsache, dass ihr Körper gerade in die bodenlosen Tiefen der Erdmassen glitt. In diesem Erlebnis verdichtet sich eine weitere Beobachtung, die die Künstlerin schon lange beschäftigt und der sie in mehreren Installationen nachgegangen ist: unser menschlicher Lebensraum besteht aus einer dünnen Schicht – der Schnittstelle zwischen Wasser oder Erde und Luft.[/one_half][one_half] In „Ligare“ (2018) greift Lena von Goedeke den Terrakotta-Boden der Orangerie des Schloss Rheda auf. Gefärbter Sand wird an einigen Stellen so auf dem Boden verteilt, dass sich das Muster des Bodens in einer zweiten, instabilen Sandschicht wiederholt. Im Laufe der Zeit und durch das Betreten der Besucher wird das Muster zerstört – neue Spuren und Wege durch den Sand entstehen.
In der Installation „Equipment First“ (2019) im Kunstverein Recklinghausen richtet die Künstlerin den Blick darauf, wie fragil die Schicht ist, die der Mensch betreten kann, was sie in der Arktis am eigenen Körper zu spüren bekam. Dort macht das Auftauen des Bodens Gegenden zur Sperrzone. Sie sind weder Land noch Wasser. Für „Equipment First“ hat die Künstlerin Gummistiefel, ohne die der tauende Permafrost Spitzbergens nicht zu betreten ist, aus nicht gebrannter Keramik nachgebildet und mit Wasser und Tusche gefüllt. Nach und nach weicht diese die Keramik auf, sodass die Skulpturen sich verformen und langsam zu einer Pfütze am Boden zusammensinken. Die dunklen Rinnsale der Flüssigkeit suchen sich ihren Weg über den Boden des Ausstellungsraums und bilden dabei Verlaufsformen und Muster, die an Flussbetten und die Spuren der Gezeiten am Strand erinnern. Die Keramik zerfällt an manchen Stellen zu Anhäufungen, die wie Gerölllandschaften anmuten. So verwandelt sich das Material im Laufe der Zeit und die mühsam geformten Gummistiefel fallen in einem Prozess, auf den die Künstlerin kaum Einfluss hat, zu landschaftsähnlichen Formationen zusammen.
„Equipment First“ gehört zu einer Gruppe von Arbeiten, die sich mit Hilfsmitteln, seien es Objekte oder auch Strategien, befassen, die der Mensch nutzt, um die Unbill der Natur und Witterung zu bändigen und sich Zugang zu so lebensfeindlichen Gegenden wie der Arktis zu verschaffen. Besonders wichtig sind der Künstlerin dabei die Werke der Serie „Hestra“ (2019) – Handschuhe aus Keramik, die über Stahlgeländer gestülpt sind. Wichtig sind sie deshalb, weil diesen speziellen Handschuhen auch vor Ort in der Arktis besondere Bedeutung zukommt. Sie sind zunächst als Hilfsmittel unverzichtbar und schützen zuverlässig vor Erfrierungen. Darüber hinaus sind sie im hohen Norden eine Art Erkennungszeichen. Wer sie trägt, gehört dazu und wird von den Einheimischen wahrgenommen.
Das Symbol, das für die Wandarbeit „CATZOC“ (2019) als Vinylsticker in einem Muster auf die Wand aufgebracht ist, markiert auf Seekarten in dieser Form die Bereiche, die kartografisch nicht gesichert sind, sozusagen unbekanntes Terrain. Die Kennzeichnung dieser Bereiche ist also ein matter Versuch in das, was nicht bekannt und systematisierbar ist, doch ein System hinein zu bringen, es als Gefahrengebiet auszuweisen. Das sind meist Gegenden, die durch den Rückzug der Gletscher erst seit Kurzem zur See gehören.
Ohne diese vom Menschen entwickelte Systematik sind wir nicht in der Lage, an diesen unwirtlichen Orten zu überleben. Wir schotten uns mit speziellem Equipment wie durch eine künstliche Haut von den zehrenden Umständen ab und erleben diese Orte sozusagen durch eine Schutzmembran hindurch.
Dass es am Ende bei all der Funktionskleidung und technischem Gerät absurderweise eines ganz natürlichen Mittels bedarf, um nicht an Seekrankheit zu Grunde zu gehen, darauf macht die kleine Plastik „Placebo“ (2019) aufmerksam. Inmitten der Installation „Berth & the Perimeter“ (2019), einer mannshohen Metallkonstruktion, die der Kabine auf der Antigua nachempfunden ist, hat Lena von Goedeke eine Knolle Ingwer platziert, die sie aus Aspirin und Gips geformt hat. Wie ein Talisman liegt sie da, wo in der echten Kabine die Bettkante wäre – ein permanenter Begleiter also, der für den Aufenthalt auf ruppiger See obligatorisch ist.
Lena von Goedekes Arbeiten werfen Schlaglichter auf einzelne Aspekte ihrer Arktisreise. Sie sind kein Reisebericht, keine Dokumentation im klassischen Sinne. Was ihnen auf meisterhafte Weise gelingt, vor allem, weil sie in ihrer raffinierten Materialität unsere Wahrnehmung herausfordern und den Betrachter körperlich ansprechen, ist eine behutsame Annäherung an den entlegenen, uns so unendlich fernen Ort der Arktis, der uns bei aller Distanz jedoch durch die globalen Auswirkungen, die seine Veränderung nach sich zieht, direkt betrifft. Wie schwierig es ist, die Bedrohungen des Klimawandels in das menschliche Bewusstsein zu tragen, hat Hans-Jochen Luhmann bereits vor zehn Jahren in seiner „kleinen Geschichte der schubweisen Aufhebung der Verdrängung des menschengemachten Klimawandels“ zusammengefasst. „Viele Zeitgenossen sind nicht fähig, zu befürchten, was zu fürchten ist – der elementare Affekt ist vom rationalistischen Zweifel überlagert.“
Vor diesem Hintergrund gelingt es Lena von Goedekes Werken, etwas anzustoßen. Sie wirken wie Katalysatoren, ein Begriff, den die Kunsthistorikerin Angeli Janhsen für Kunstwerke ins Spiel gebracht hat. Wie ein solcher setzen sie eine Reaktion in Gang, nur ist es hier keine vorprogrammierte chemische Reaktion, sondern ein ergebnisoffenes Nachdenken. Gerade die drängenden und hoch politischen Fragen nach dem Klimawandel und unseren Einfluss auf die Erderwärmung sowie unser Verhältnis zur Natur werden hier nicht mit erhobenem Zeigefinger zur Sprache gebracht, sondern viel subtiler in unser Bewusstsein getragen. Es ist beispielsweise paradox, dass man als Betrachter die Bilder der Gletscher eher für kunstvoll gelungene, digitale Fiktion hält, aber nicht glaubt, dass sie echt sind. Oder dass wir an der mit Seepocken besetzten Jacke eher die Seepocken und nicht das glitzernde Plastik der Jacke selbst als abstoßend empfinden.
Die Werke präsentieren keine Antworten, sondern werfen Fragen auf. Der Sinn, der sich aus der Konfrontation mit ihnen generiert, entsteht in der Betrachtung selbst und für jeden individuell. Hier gilt für den Betrachter das, was Lena von Goedeke in einem ihrer Texte, die sie während ihrer Reise und danach für ihren Blog geschrieben hat, über ihre anfängliche Unfähigkeit, auf die Gewalt der Arktis künstlerisch zu reagieren, formuliert: „Zu Erinnerungen werden die Anblicke erst, weil ich mit eigenen Augen sehe, und ich denke, ich bin kein Rechner. Sinn ist langsam, und ich habe Zeit.“
Aus ihren Texten, die durch eine feinsinnige Beobachtungsgabe und Sprachgewalt beeindrucken, spricht immer wieder eine tiefe Ergriffenheit. Einige Formulierungen, aber auch die Werke selbst, beispielsweise die Gletscheransicht, die auf monumentale Stoffbahnen gedruckt ist, oder die Videoarbeit „We walk the plank“ (2019), die um den Verlust einer klar strukturierten Wahrnehmung kreist und den Betrachter in schwindelerregenden Bildern vorbei an treibenden Eisblöcken über die spiegelglatte Wasseroberfläche gleiten lässt, erinnern an den Dialog zwischen Schönheit und Schrecken, der uns aus romantischen Landschaftsdarstellungen bekannt ist. In Caspar David Friedrichs „Das Eismeer“ (1823/24) liegt in der unwirtlichen Eislandschaft ein Schiffswrack verborgen. In seinen Werken mischt sich die Furcht vor der Härte der Natur mit dem Gefühl der Erhabenheit, das in seinem „Wanderer über dem Nebelmeer“ (1818), seine reinste Darstellung findet. Ausgerechnet der Künstler selbst ist es, der hier als Rückenfigur triumphal „über“ der Natur thront. Vor dem Hintergrund dieser Tradition des Blicks auf gewaltige Natur, stellt sich die Frage nach unserem aktuellen Verhältnis zu ihr. Was genau wirkt in Lena von Goedekes Werken bedrohlich? Ist es die Unbill der Witterung, die das Leben des Menschen an diesem Ort nahezu unmöglich macht? Oder ist es das unaufhaltsame Vordringen menschlicher Zivilisation, die das Überdauern dieses Ortes unmöglich macht?
Auch wenn Lena von Goedekes Werke nachdenklich machen, kann man nicht umher, ihre Schönheit wahrzunehmen, die ein Stück weit die Schönheit der Gegend, auf die sie sich beziehen, transportiert. Gibt man sich jedoch diesem Augenschmaus hin, fühlt man sich fast ertappt. Ist es in einer Zeit, in der der Mensch die größte Bedrohung des natürlichen Gleichgewichts ist, überhaupt noch vertretbar, in Anbetracht dieser Arbeiten Erhabenheit zu fühlen? Vermutlich ist es nicht nur legitim, sondern unabdingbar. Denn wie der zuvor zitierte Satz über die Langsamkeit des Sinns konstatiert, liegt hier die Stärke der menschlichen, weil sinnlichen Wahrnehmung. Die optischen Reize lösen keinen vorprogrammierten Algorithmus aus, sondern einen ganz individuellen Gefühls- und Denkprozess. I‘M NO ROBOT.
1)Anja Osswald: Die nicht mehr schöne Natur. Ästhetik und Ökologie in der Moderne, in: Kunstforum International, Bd. 199, Okt.-Dez. 2009, S. 104-115, hier S. 106f.
2)Einige spannende künstlerische Betrachtungen der Arktis stellt Hartmut Böhme in folgendem Aufsatz vor: Hartmut Böhme: Tote Natur? Stein und Petrefakt, Wüste und Arktis als Dimensionen der Kunst im Anthropozän, in: Kunstforum International, Bd. 258, Jan.-Feb. 2019, S. 96-105.
3) Ebd., S. 99.
4) Hans-Jochen Luhmann: Eine kleine Geschichte der schubweisen Aufhebung der Verdrängung des menschengemachten Klimawandels, in: Kunstforum International, Bd. 199, Okt.-Dez. 2009, S. 79-91, hier S. 90.
5) Angeli Janhsen: Neue Kunst als Katalysator. Berlin 2012.
6) Die Texte waren online abrufbar unter http://vongoedeke.com/home/the-arctic-circle-residency (4.11.2019). -
Einige Überlegungen zu Lena von Goedekes Ausstellung im Kunstverein Bochum
Der Besucher, der die Ausstellung „What happens in vagueness stays in vagueness“ Lena von Goedekes im Sommer 2016 im Kunstverein Bochum betritt, wird sich eines bestimmten ersten Eindrucks nicht erwehren können. Dabei sind es zunächst nicht so sehr einzelne, besonders hervorstechende Werke, die das Bild bestimmen. Was vorerst ins Auge fällt, ist die Stringenz der Gesamtsituation, die besondere Evidenz und sichtliche Selbstverständlichkeit, mit der sich die Arbeiten zueinander und zum Raum ins Verhältnis setzen. Alles scheint sich in einen größeren Zusammenhang zu fügen. Bestimmte, mehrfach wiederkehrende motivische Formulierungen durchziehen gleichsam als Leitmotive die Ausstellung und evozieren die Frage nach einer ganzheitlichen Idee, die hinter alledem steht. Tatsächlich lässt sich für die Ausstellung eine konzeptuelle Klammer benennen: In allen Werken setzt sich Lena von Goedeke jeweils mit den äußeren Faktoren der Produktion und Präsentation von Kunst auseinander. Das Bochumer Projekt stellt gewissermaßen eine Recherche über die Bedingungen, Gegebenheiten und Begrenzungen des gesetzten künstlerischen Handlungsraumes dar. Das betrifft die Verfügbarkeiten von Fördermitteln ebenso wie Erreichbarkeiten und Distanzen von Orten oder die beschränkte Ladekapazität des privaten Volvo-Kombis, der zum Transport der Kunstwerke genutzt wird. All diese Aspekte finden ihren Niederschlag in den einzelnen Werken. So begegnen wir etwa an mehreren Stellen im Ausstellungsraum, sei es auf dem Boden oder an der Wand, einem in Filzdecken geschnitten Muster, das unweigerlich Assoziationen an Stadtpläne oder Streckennetzkarten evoziert. Die für den Transport von Möbeln wie Kunstwerken gebräuchlichen Filzdecken verweisen dabei ihrerseits auf Kontexte von Bewegung und räumlicher Transferierung. Dasselbe Linienmuster findet sich auch in die Oberfläche der Arbeit Box,dfx, einer eigens gefertigten hölzernen Transportbox, eingefräst. Die Lineamente verdanken sich dem virtuellen Kartensystem von Google Maps, mit dem die Künstlerin sämtliche Wege, die sie in Vorbereitung der Ausstellung zurückgelegt hat, per GPS erfasst hat – sei es zu Fuß, mit der Bahn, dem Auto oder dem Flugzeug. Darunter finden sich Wege innerhalb Berlins, wo Lena von Goedeke lebt und arbeitet, wie auch Routen nach Bochum, Köln, Bonn, Heidelberg, Hamburg und Frankfurt. Bei dem abstrahierten Linienmuster handelt es sich gleichsam um eine auf die eigene Person bezogene Aneignung spezifischer Bereiche des digitalen Kartensystems, um eine Sichtbarmachung jener Spuren, die die Künstlerin in dem virtuellen Koordinatensystem hinterlassen hat. Ein weiteres, sich wiederholendes Motiv bilden die aus dünnen Holzleisten zusammengefügten Rahmen, die sich in unterschiedlichen Größen und Kombinationen (WD70) über den Ausstellungsraum verteilen. Diese erweisen sich als Reminiszenz an das Freistellungswerkzeug des Bildbearbeitungsprogramms Photoshop, das die Künstlerin selbst im Rahmen ihrer künstlerischen Arbeit verwendet und das für uns alle längst zum vertrauten Kennzeichen digitaler Arbeitsbereiche geworden ist. Die virtuellen Rahmen der Computersoftware hat die Künstlerin durchaus detailbewusst in das Medium der Skulptur übertragen. Selbst die Eck- und Kantengriffe, die am Bildschirm zur Veränderung des Fensterausschnitts dienen, wurden übernommen. Teils überlagern sich die Rahmen und bilden eine Staffelung, die dem Effekt mehrerer gleichzeitig geöffneter Programmfenster am Computer nahekommt. Auch der Transportkiste mit dem schlichten Titel Box.dfx kommt eine spezifische Bedeutung zu: Ihre Maße umschreiben ein Raumvolumen, das dem Kofferraum des privaten Pkw entspricht. Somit markieren sie zugleich jene Größe, bis zu der die im Atelier produzierten Arbeiten ohne Zuhilfenahme einer Kunstspedition (und den damit verbundenen finanziellen Ausgaben) zum Ausstellungsort transportiert werden können. Hiermit steht auch die an mehreren Stellen in der Ausstellung implementierte Kopie eines elektronischen Schaltplans in inhaltlicher Verbindung. Er stammt von der Bordelektronik des Volvo-Kombis und zeigt das Bremslichtmodul, eines in diesem Falle defekten Bauteils, das nicht nur die Nutzung des Fahrzeugs unterbindet, sondern mit dem Ausfall dieses unentbehrlichen Transportmittels wiederum die eigenen Möglichkeiten der Produktion und Präsentation von Kunst erschwert und begrenzt. Lena von Goedeke thematisiert und reflektiert in diesen Arbeiten die weitreichenden Wechselwirkungen zwischen Alltag und Kunst. Eine solche Herangehensweise ist bezeichnend für den konzeptionellen Ansatz Lena von Goedekes insgesamt. Erkenntnisse und Ergebnisse von Untersuchungen, Recherchevorgängen und Datensammlungen bilden eine Grundlage ihrer künstlerischen Arbeiten. Sie schreiben sich in deren Struktur ein, bestimmen Ausführung und Erscheinung der jeweiligen Werke. All dies steht in offenbarer Nähe zu einem Ansatz, den man im weitesten Sinne der Artistic Research zuordnen könnte, wobei sich die Arbeiten Lena von Goedekes eher als kritische Reflexion denn als vordergründige Adaption der Idee von künstlerischer Forschung erweisen. In ihre Haltung mischt sich nicht zuletzt ein latenter Zweifel gegenüber einer vorschnellen gegenseitigen Erklärbarkeit von Kunst und Wissenschaft. Wenn Lena von Goedeke ihrer Ausstellung den Titel What happens in vagueness stays in vagueness gibt, dann klingt darin auch eine gewisse Skepsis gegenüber einem positivistischen Weltverständnis an. Sie misstraut einer Vorstellung, nach der alles zu einer letztlichen Klarheit gebracht werden kann. Ihr Interesse gilt nicht zuletzt jenen Indifferenzen und Unwägbarkeiten, die unser Streben nach Erkenntnis begleiten. Ein bezeichnendes Merkmal aller Arbeiten Lena von Goedekes besteht darin, dass sie sich eindimensionalen Lesbarkeiten entziehen. Ihnen ist eine vielmehr latente Offenheit, eine nachhaltige und nicht auflösbare Polyvalenz eigen. Anders als die visuellen Darstellungsverfahren der Wissenschaft zielen die Werke der Kunst nicht auf eine lineare Vermittlung von Information. Hierin liegt ihre besondere Chance. Vor diesem Hintergrund zeigen sich auch die Werke Lena von Goedekes einem interpretatorischen Ansatz nur partiell zugänglich. Sie lassen sich nicht auf einen extrahierbaren und damit vom Kunstwerk ablösbaren Sinn reduzieren. Ihnen ist zugleich eine weitere Dimension eigen, die in der Präsenz des Werks und seiner ästhetischen Erfahrbarkeit begründet liegt. Als Werke der Kunst fordern sie zu einer spezifischen Form der Rezeption heraus, in der sich die Ebenen sinnlicher Erfahrung und denkbare Sinnzuschreibungen gegenseitig durchdringen. Mit Hans Ulrich Gumbrecht lässt sich „das ästhetische Erleben als ein [/one_half][one_half]Oszillieren (und mitunter auch als Interferenz) zwischen »Präsenzeffekten« und »Sinneffekten« begreifen.“ Keiner dieser Aspekte mag für sich genommen der Tragweite des Kunstwerks gerecht zu werden. Der Philosoph Martin Seel hat dem Begriff der Präsenz einen weiteren Begriff zur Seite gestellt, den des Erscheinens. Mit Erscheinen bezeichnet Seel die Art und Weise, wie sich die Dinge der Welt im Allgemeinen und die Werke der Kunst im Besonderen unserer Wahrnehmung darbieten. Indem wir die Dinge in ihrem Erscheinen wahrnehmen, treten wir in eine komplexe Wechselwirkung ein, die über eine ledigliche Bestandsaufnahme des sinnlich Gegebenen deutlich hinausreicht. Als tragendes Element ästhetischer Erfahrung stellt das Erscheinen ein vielschichtiges Phänomen dar, wobei Seel drei Dimensionen des Erscheinens unterscheidet: das bloße Erscheinen, das atmosphärische Erscheinen und das artistische Erscheinen.Überträgt man Seels Überlegungen auf die künstlerische Arbeit Lena von Goedekes, so eröffnet sich ein nochmals differenzierter Blick auf ihre Werke. Betrachten wir deren Strukturen unter dem Aspekt ihres bloßen Erscheinens, so konzentriert sich die Wahrnehmung ganz auf deren sinnliches Gegenwärtigsein. Über das ästhetische Objekt stellt sich eine von Kontemplation getragene Erfahrungs- und Erkenntnisebene eigenen Rechts ein, die sich auf die „Fülle seines momentanen und simultanen Gegebenseins“ und damit auf die „Präsenz der an in koexistierenden und interferierenden Erscheinungen“ richtet. Der Betrachter sieht sich einer Komplexität gegenüber, die nicht nur die sinnlich erfassbaren Qualitäten der jeweiligen Objekte, ihrer Materialien, ihrer Farbigkeit und ihrer Form betrifft, sondern mehr noch das kalkulierte Wechselspiel dieser Aspekte als sinntragende Momente einer künstlerischen Gestaltungsidee erkennt. So kann man etwa an der Box.dfx im Nebeneinander von geschlossenen Volumen und sichtlicher Öffnung der partiell durchbrochenen Oberfläche den Wechsel von Außenansicht und Einblick nachvollziehen. Bei den hölzernen Rahmen der Arbeit WD70 ist nicht nur deren fragile Materialität wahrnehmbar, sondern auch, wie sich innerhalb der Rahmen ein begrenztes Sichtfenster und darin wiederum eine besondere bildliche Qualität des Sichtbaren ergibt. Man kann den Wechselwirkungen im Raum nachspüren, Akzentuierungen und Verdichtungen innerhalb des eher sparsam bespielten Ausstellungsraumes wahrnehmen und – über die Distanzen hinweg – visuellen Korrespondenzen sowie trennenden und verbindenden Kräften nachspüren. Das bloße Erscheinen bleibt dabei stets ganz auf den jeweiligen Augenblick bezogen, und zwar im durchaus buchstäblichen Sinne als das, was sich dem Auge im Moment des Sehens darbietet. Jeder Moment wird dabei zwangsläufig unzulänglich bleiben müssen. Niemals wird man das Sinnhafte des Gesamtbildes sowie die Fülle seiner ebenfalls sinntragenden Details in einem Blick erfassen. Daraus resultiert eine ästhetische Pendelbewegung, die permanent zwischen dem Ganzen und seinen Details wechselt, ohne letztlich zu einem endgültigen Abschluss zu kommen. Dieser Aspekt, der einen Grundzug ästhetischer Erfahrung darstellt, tritt auch in anderen Werken deutlich hervor, wie etwa Bleibt das bloße Erscheinen auf das sinnlich Gegebene gerichtet, so bezieht das atmosphärische Erscheinen weitere Bedeutungsebenen auf der Basis mitschwingender Erfahrungen ein. Angesichts der Arbeiten Lena von Goedekes zeigt sich, dass der Übergang von einem bloßen Erscheinen zu der Ebene des atmosphärischen Erscheinens fließend ist. Unweigerlich schwingen in der Betrachtung Aspekte mit, die weitergehende Schichten anklingen lassen. So wird die Exaktheit und Präzision etwa, mit der die Linienstruktur aus der Wand der Holzbox computergesteuert ausgefräst ist, nicht nur als rein formale Qualität, sondern stets auch in einer allgemeineren Bedeutung als Anzeichen einer technisch-maschinell konnotierten Welt bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden. Ebenso wird die Rasterstruktur in der Glasarbeit Minus kaum ausschließlich als abstraktes Linienmuster, sondern bewusst oder unbewusst auch als rationalistische Gliederungsstruktur gesehen werden sowie deren partielles Aufbrechen als ein Verlust ebendieser rationalen Ordnung. Das atmosphärische Erscheinen zeichnet sich nach Seel dadurch aus, dass „die phänomenale Präsenz eines Objektes oder einer Situation als Widerschein einer Lebenssituation aufgefasst wird“ und damit „in einer existentiellen Bedeutsamkeit anschaulich wird.“ Darin kommen auch jene Kontexte zu tragen, die den thematisch-konzeptuellen Hintergrund der Bochumer Ausstellung bilden. Dies sind Rechercheergebnisse, gesammelte Informationen und Muster, die hinsichtlich der Ausstellung und deren Vorbereitung bedeutsam wurden, wie etwa die im Vorfeld der Ausstellung zurückgelegten Wege, das Kofferraumvolumen des Transportfahrzeugs oder die Bildschirmfenster der verwendeten Bildbearbeitungssoftware. Als hintergründig verfügbares Wissen werden diese Bedeutungsfelder im Moment der Wahrnehmung präsent. In der Betrachtung wird dieses spezifische Wissen aktiviert und mit dem Feld der ästhetischen Erfahrung verknüpft. Als dritte Dimension des Erscheinens führt Seel das artistische Erscheinen ein. Hierin werden uns die Werke der Kunst gezielt als Darbietungen vor Augen geführt, und zwar als „Darbietungen im Medium des Erscheinens.“ Unsere Sichtweise basiert dabei auf der berechtigten Annahme, dass es sich um intendierte Vorführungen handelt. Im Unterschied zu allen anderen Objekten (wie z. B. die ‚Objekte’ der Natur) unterscheiden sich Kunstwerke dadurch, dass sie, wie Seel es nennt, „Gebilde eines artikulierenden Erscheinens“ sind und damit als Folge eines gestalterischen Kalküls verstanden werden wollen. Vor diesem Hintergrund werden Kunstwerke überhaupt erst als sinntragende Bildungen wahrnehmbar. Die Arbeiten Lena von Goedekes, so reduziert sie mitunter auch in ihrer Materialität und Formensprache daherkommen, setzen genau auf diese der Kunst eigene Mehrschichtigkeit. Wurde eingangs die Auseinandersetzung mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Begrenzungen des eigenen künstlerischen Agierens als thematisch-konzeptueller Hintergrund der einzelnen Werke wie der Bochumer Ausstellung insgesamt bestimmt, so verhandeln sie diese Themen nicht unter der Prämisse einer Aufsummierung von Information. Vielmehr aktivieren sie diese Bedeutungsfelder als Potentiale einer vielschichtigen ästhetischen Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeit. Jenseits begrifflicher Eingrenzungen und linearer Deutungsmodelle schaffen sie eigene Zugänge zu Formen des Wissens über unser Dasein in der Welt.
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Das Kunstwerk, das sich dem Genre der Installation zuordnen lässt, ist in den meisten Fällen ortsgebunden. Es hat entweder eine Größe, die einen bestimmten Raum erfordert oder ist für einen speziellen Ort gemacht. Installationen können spektakulär ausgeführte Werke sein, die einen Ort massgeblich verändern. Sie können auch leise bis nahezu chiffriert sein und dem Betrachter nur einen sich zu erarbeitenden Zugang ermöglichen. Sie haben aber alle etwas gemeinsam: sie verändern bzw. manipulieren unsere Sicht auf das, was gerade vor uns ist oder was uns unmittelbar umgibt. Die meisten Installationen sind temporär angelegt, was heisst, dass das Kunstwerk in den meisten Fällen mit dem Abbau gleichzeitig zerstört, zumindest fragmentiert wird. Die installative Arbeit von Lena von Goedeke überlebt die Zeit bis zum Abbau vielleicht nicht einmal. Sie ist Teil einer Reihe in ihrer künstlerischen Arbeit, welche sich mit Spuren beschäftigt, die wir als Menschen hinterlassen. Wir Menschen bleiben in einer bestimmten Art sichtbar, auch wenn wir den Ort, an dem wir waren, längst verlassen haben. Die Spuren können visuell erfassbar sein, vielleicht bleibt von uns etwas in der Luft oder sie sind digital - nichts im Leben können wir tun, ohne eine Art Fingerabdruck zu hinterlegen. Die Orangerie hat eine Art doppelten Boden. Große Teile des Bodens sind mit „Steinen“ ausgelegt, die nur fest zu sein scheinen. In Wirklichkeit sind sie porös, aus gefärbtem Sand nachgeformt. Das hat den Effekt, dass, sobald wir die Steine betreten, diese unter unserem Gewicht zu Sand werden.[/one_half][one_half]Wir zerstören also mit unseren Schritten das temporäre Kunstwerk. Wieweit es die Ausstellungszeit übersteht oder nicht, hängt einzig und allein vom Verhalten der Besucher*innen ab. Die Transformation der Ziegelsteine in einen anderen Aggregatzustand macht Bewegungen auf dem Material sichtbar. Vergleicht man den zum Teil Jahrhunderte alten Ziegelboden einmal mit einem Ölgemälde: Normalerweise ist ein Ölbild, nachdem es durchgetrocknet ist, gegen Berührungen relativ immun. Z.B. hat Ad Reinhardt bei seinen schwarzen Gemälden der Ölfarbe ihr Bindemittel Öl entzogen, um die verschiedenen Schwarztöne besser sichtbar zu machen. Dieser veränderte Zustand der Farbe hat aber zur Folge, dass jede leichte Berührung mit dem Finger einem Totalschaden des Bildes gleichkommt. Dieses Kunstwerk über Spuren ist kein statisches. Gleichzeitig ist es eine Art empirisches Experiment über das destruktive Verhalten von Menschen in öffentlichen Räumen. Kann man am Ende ein Verhalten ablesen, was sich pauschalisieren lässt? Oder verhält sich jeder Besucher anders? Das Ende bleibt offen - und mit Spannung wird das Kunstwerk dokumentiert. Haben wir am Ende der drei Wochen nur noch losen Sand in der Orangerie, was bedeuten würde, dass die Besucher*innen das Werk sozusagen rücksichtslos zertreten haben? Oder ist das Werk noch einigermassen erhalten, was wiederum zeigen würde, dass jede*r in die Spuren des Vorgängers getreten ist, um das Kunstwerk zu erhalten?
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Mit Raw Feels ist in der Galerie m erstmals das Werk der 1983 in Duisburg geborenen und in Berlin lebenden Künstlerin Lena von Goedeke mit einer Einzelausstellung zu sehen.
Lena von Goedekes Werke – in akribischer Handarbeit gefertigte Scherenschnitte, massive, dabei fast schwebende Landschaften aus Zement, feine, sich über die ganze Wand ziehende Zeichnungen – muss man im Original betrachten um sie zu begreifen. Der feine, staubige Sand des Zements, der an den Rändern weggerieselt ist und eine karge Landschaft hinterlassen hat; das Glitzern und Leuchten einer zu plastischen Mustern geschnittenen Reflektorfolie: Das Material, seine Beschaffenheit und die Oberflächen bannen den Blick und werfen Widersprüche und Fragen auf.
Da sind zum Einen die Muster und Strukturen, die in ihrer Perfektion und Systematik maschinellen Prozessen entsprungen zu sein scheinen, was tatsächlich auch so ist: Das dreidimensionale Netz des Scherenschnitts wurde von der Künstlerin mithilfe eines Computerprogramms zur Erstellung virtueller Welten entworfen und dann in beharrlicher Handarbeit ausgeschnitten. Die Gitterstrukturen der Serie Kenzo haben ihren Ausgangspunkt in digital generierten Rastern.
Lena von Goedekes Werke sind in ihrer Genese eng mit elektronischer Datenverarbeitung verknüpft. Sinnbildlich verdichtet sich dies in den Certificates im Fingerabdruck als Referenz zu unserem Dasein zwischen analoger und virtueller Welt: Der digitale Fingerabdruck als Spur unserer Onlineaktivität, das Entsperren des Touchscreens und der Touchscreen als solcher, der Finger als Zugang zur virtuellen Welt, in der paradoxerweise im Moment ihres „Betretens“ das Haptische und damit viele Ebenen der sinnlichen Wahrnehmung außen vor bleiben. Eben diese ist in Lena von Goedekes Arbeiten jedoch zentral: Hier ist ein genaues Betrachten der Objekte und ihrer Beschaffenheit gefragt. Es geht um ihr Dasein im Hier und Jetzt und eine Begegnung mit ihnen von Angesicht zu Angesicht.
Die verwendeten Materialien sind filigran, die Anmutung der Werke ist klar und subtil. Sie erfordern ein genaues Hinsehen und sprechen das an, was Lena von Goedeke mit dem Titel der Ausstellung Raw Feels ins Spiel bringt: Die „Qualia“ – ein vielschichtiger und umstrittener Begriff, der sich kurz gesagt mit dem subjektiven Erleben beschäftigt, das sich bei aller neurowissenschaftlichen Kenntnis nicht objektiv fassen lässt. Qualia fragen nach dem „Wie-fühlt-es-sich-an“?
In einer Zeit der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz spielt Lena von Goedeke mit der Verknüpfung analoger und digitaler Technik und ihrer Wahrnehmung und trifft damit einen aktuellen Nerv. Die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Erlebnisgehalt der verschiedenen Welten tritt in ihren Objekten, die mit beiden verbunden sind, zutage und regt ein vielschichtiges Nachdenken an. Dass sich das zutiefst Menschliche der Qualia in künstlichen Intelligenzen nicht nachbauen ließe, ist nur eine von vielen Assoziationen beim Nachdenken über ihre Ausstellung.
Als Motiv, in dem sich vieles von dem, was Lena von Goedeke beschäftigt, vereint, steht die Landschaft in vielen ihrer Arbeiten im Mittelpunkt. Dabei spielt ihr persönliches Erleben teils extremer Landschaften auf Reisen und Wanderungen für die Entstehung neuer Werke eine zentrale Rolle. In 2017 reiste Lena von Goedeke im Rahmen des Ruhr Residence Stipendiums der Ruhr Kunstvereine auf die Lofoten, eine Inselgruppe im äußersten Norden Norwegens, und besuchte dort ein Zentrum für Oberflächenforschung. In diesem Jahr wird sie das Arctic Circle Stipendium auf einem Segelschiff in Richtung Nordpol führen. -
Eine Levitation ist ein technisches Verfahren, bei dem ein Objekt zum freien Schweben gebracht wird. Konzeptionell kann der Schwebezustand als eine Verabschiedung eines festen Grundes, einer letztgültigen Basis verstanden werden, aus der heraus Erkenntnisse eindeutig hergeleitet werden können. Miriam Jonas und Lena von Goedeke erzeugen diese Schwebe der Objekte, indem sie deren Material auf unkonventionelle Weise benutzen oder ihr in der Funktion neuen Sinn zuschreiben. Bedeutung geht nicht aus einem Wissen, um die Dinge und ihren Zweck hervor, sondern aus einer ästhetischen Erfahrung, die auch die Einbettung der Werke in ihren Präsentationskontext einschließt. Die Indifferenz der Schwebe steht als Strategie für ein grundsätzliches Moment künstlerischer Tätigkeit: In der Auseinandersetzung mit der Materialität und Funktion der Objekte wird das Faktische hin zum Möglichen geöffnet. Dieses Potential schöpfen beide Künstlerinnen auf unterschiedliche Weise aus: Jonas als das Andere, das Unheimliche und das Posthumane, von Goedeke als das Eigene, das Technische und das Postdigitale.
Durch die Neuinterpretation des Raumes erzeugen die Künstlerinnen eine eigene Codierung, mit der sie die einzelnen Werke miteinander verbinden. Ein zentraler Wert in dieser Codierung ist der Pool. Durch die Platzierung, Materialität, Haptik wie auch Farbigkeit der Objekte umkreisen sie mit Aspekten der Flüssigkeit, der Struktur der Wasseroberfläche, der Sicherheitsgeländer, des Sprungbrettes und des Seifenaromas die Thematik, ohne sie dabei eindeutig zu benennen. Sie leiten aus der besonderen Architektur der Galerie, den Höhenunterschieden der einzelnen Räume und den kleinen Verbindungstreppen, den Pool als konzeptionellen Ausgangspunkt ab, um ihre je eigene Position daran anzuknüpfen. Hierdurch verbinden sie bereits bestehende mit neuen, eigens für die Ausstellung entstandenen Werken. Die Arbeit Fokus (2014) von Miriam Jonas ist ein aus Fliesen und Fugen zusammengesetztes Wandbild. Durch die Abdunkelung der Fugen im Zentrum hebt sie die Rasterstruktur hervor und verleiht dem Bild ein narratives Moment, denn normalerweise werden die Fugen nur durch Nutzung und Verschmutzung dunkler. In der Serie Pool (2018) bearbeitete Jonas XP-Schaumplatten derart, dass eine Struktur ähnlich einer Wasseroberfläche entsteht, die durch Form und Einfassung zudem der Aufsicht eines Pools entspricht. Über die Ausstellungsräume verteilt präsentiert sie ein Handtuch und Socken (Socks, 2018), an deren Enden sich leuchtende, teils farbintensive Kristalle gebildet haben. Es scheint als wären die Textilien nass geworden und hätten infolge einer chemischen Reaktion kristalline Strukturen gebildet. Mit Boss (2016) überführt sie den roten Panzer eines Krebses in die kühle, schwarz glänzende Oberflächenästhetik ihrer Formsprache. Die leicht rotierenden Augen erinnern an die Bewegung unbelebter Materie in der Geschichte der Automaten und Puppen und erzeugen eine unheimliche Präsenz eines Anderen, eines Eigenlebens der Dinge. Die glattgestrichenen oder funkelnden Oberflächen kaschieren das Befremdliche und Schauerliche einer darunter liegenden Narration oder Vitalität.
Auf einem Geländer an der Wand lässt Lena von Goedeke einen Fuß balancieren. Die Arbeit Firm nimmt durch ihren Seifenduft und ihre ungewöhnliche Materialität und Leichtigkeit sowohl auf das Poolsetting des Ausstellungsraums als auch den Schwebezustand im Ausstellungstitel unmittelbar Bezug. Auf dem Boden vor der Stange ist ein Teppich neu verlegt worden, in den hinein sie Strukturen geschnitten hat. Auf dem Stoff steht die Arbeit Bittersweet, Keramikschuhe als Abguss des Adidas Samba Modells, das in ihrer Jugend- und Studienzeit besonders beliebt war. Mit den geometrischen Mustern und den persönlichen Referenzen verbindet sie zwei Aspekte, die für ihre künstlerische Arbeit wesentlich sind: das Eigene als Struktur der Erinnerung und des privaten Umfelds und das Technische als Struktur eines digitalen und industriellen Milieus. Von Goedeke übersetzt als postdigitale Strategie technische Praktiken und die damit verbundenen naturwissenschaftlichen Wissenssysteme in traditionellere Medien und damit konkret ins Material um. Das Eigene dient dabei als persönliche Aneignung, als von innen auferlegte Struktur gegenüber den technischen Strukturen, die ihr entgegenkommen.
Beide Künstlerinnen wenden sich einer Analytik des Materials zu, deren Ausgangspunkt eine produktive Schwebe der Funktions- und Bedeutungszuschreibung ist. Die dabei entstehenden neuen Strukturen und Oberflächen verlangen zudem eine Verortung des Betrachters im Raum, indem sie wie in der Serie Pool von Miriam Jonas oder der Arbeit Radar II von Lena von Goedeke bewusst mit der Perspektive und der Distanzleistung spielen. Neben diesen sich auf den Oberflächen abzeichnenden Strukturen, geht es den Künstlerinnen aber ebenso um jene Unsichtbaren, die sich aus der Bearbeitung und Nutzung des Materials eher als eine Formsemantik ableiten lassen.
Die sich in der Schwebe befindenden Werke verlangen nicht nach einer ganz anderen Perspektive, die jenseits des Bewussten oder Menschlichen liegt. Sie adressieren vielmehr eine individuelle Wahrnehmung und erfahrungsmäßige und emotionale Verortung, die sich nach der Krise des Subjekts im 20. Jahrhundert der eigenen Position und Rolle in der gegenwärtigen technischen Wirklichkeit vergewissert. Der Pool als assoziative Verkettung kann dabei auch als Metapher für unsere derzeit flüssige Nachmoderne verstanden werden: Tradierte Fundamente werden entlarvt und in Frage gestellt. Eine konstante Schwebe stellt sich ein. In diesem Zustand nutzen Jonas und von Goedeke die besondere Auseinandersetzung mit der Materialität, um sich der Dinge zu vergewissern. Unsere Erfahrungswelt ist ein Milieu zusammengesetzt aus Natur, Kultur, Belebten, Unbelebten und Technischen, dessen Eigenarten wir in der festen Routine unseres Alltags ausblenden. Den konventionellen Zuschreibungen enthoben, kommen uns die Dinge als etwas anderes entgegen, als etwas auch Unheimliches (Jonas), das die Ränder unserer gewohnten Erfahrungswelt aufzeigt, oder als etwas Technisches (von Goedeke), das an die Grenzen der vom Menschen erzeugten Bildwelten rückt. Das Subjekt kehrt zurück unter den Bedingungen des Rückkehrers. -
Hybridität Die Arbeiten Lena von Goedekes treten weniger innerhalb streng disziplinierter Medien, sondern vielmehr als Hybride (lat. „hybrida“: Mischling, Bastard) auf, die unterschiedliche mediale Formen und zeitlich kontextualisierte (Visualisierungs-)Techniken inkorporieren: Sie verbinden Strukturen, Schemata und Perspektiven der computergenerierten 3-D-Modellierung (→ Drahtgittermodell) mit liniengebenden Verfahren der Zeichnung; sie bedienen sich Strategien des Ornamentalen in Kooperation mit materialmimetischer Malerei (→ Täuschung); sie entwickeln Formen im Zeichnerischen und Malerischen bis ins Skulpturale und Installative. Hybridität wird hier auch als Kontaktaufnahme von Intermedialität mit einer Idee von Intertemporalität erkennbar (→ Postdigital). Inspiriert von unterschiedlichen Referenzsystemen – etwa Naturwissenschaften, Architektur, Landschaft – treten Muster und Schemata verschiedener räumlicher Darstellungen in Beziehungen zu Techniken und Verfahren verschiedener Zeiten. Es setzt sich ein (Werk-)Prozess in Gang, der in seiner ästhetischen Präzision sowie technischen Perfektion Fehler (→ Systemfehler) in Form von Unregelmäßigkeiten und artifiziellen Spuren des Arbeitens als Konstitutive künstlerischer Praxis integriert. So tritt auch der künstlerische Prozess selbst als Hybrid, als Aktant menschlich-körperlicher, algorithmischer und materieller Widerständigkeiten hervor, dessen Eigenlogik vermeintlich Vergangenes und digital modellierte Zukunftsoptionen in Werke der analogen Gegenwart transformiert.
Oberfläche Oberflächen sind in den Arbeiten Lena von Goedekes auf unterschiedliche Weise als räumlich wahrnehmbare Flächen präsent, die mehrere Ebenen einschließen und somit paradoxerweise Tiefe ermöglichen. Die Arbeit Remote Sensing nimmt Bezug auf Verfahren der Informationsgewinnung über Objekte und Erdoberflächen aus der Distanz unter Einsatz von Flugzeugen und Satelliten via Sensoren, die mittels bildgebender Verfahren zu dreidimensionalen Darstellungen führen. In den Papierschnitten (→ Schnitt), beispielsweise in Coil I, Lot I und II oder der Reihe Frame, wird die Oberfläche gleichsam ex negativo durch Ausschneiden als Ebene reflektiert. Mittels softwarebasierter Schemata, Muster und Strukturen, die zuvor auf die papierenen Flächen gezeichnet wurden, wird die Systematik der Reduktion bestimmt. In ornamentaler Zweidimensionalität (siehe Out not in) wird die Oberfläche zugleich zur Schnitt- und Bildfläche. Durch die geradezu perfekte Imitation von Holz erscheinen die präzisen und akribischen dem Material eingeschnittenen Strukturen zunächst fast unmöglich und erhalten einen fiktiven Charakter, dessen Ermöglichung sich erst auf den zweiten Blick eröffnet: Dann, wenn das Papier als Material hervortritt (→ Irritation). Auch offenbart sich in den Arbeiten das Prozessuale und Dynamische von Oberflächen: In täuschend simulierter Dreidimensionalität geraten sie, beispielhaft sichtbar bei Frame, scheinbar in Bewegung und beginnen ins Räumliche zu expandieren (→ Täuschung). Dieser irritierende Effekt von Plastizität und Tiefe setzt sich sodann in den Bildobjekten Prototypen fort: Die rechteckigen kupfernen Flächen dehnen sich mittels in die Kupferplatten geätzter Muster, jedoch ohne Veränderung der Grundflächen in den Raum aus. Der Übergang zwischen analogen und digitalen Oberflächen der Arbeitsprozesse selbst wird in den unterschiedlichen Werken reflektiert: Die Schneidematte mit ihren linearen Schemata als fundamentales Utensil des Cut-outs wird in der Arbeit Minus als gläserne Scheibe stilisiert; in der Arbeit Skalierungen referieren die Fenster auf Auswahlfenster des Programms Photoshop – der digitale Raum in seinen Verhältnismäßigkeiten findet seinen Fortgang im Analogen und dessen Materialität (→ Postdigital).
Schnitt Ein Schwerpunkt der künstlerischen Praxis Lena von Goedekes liegt auf Scherenschnitten, Papierschnitten beziehungsweise dem Medium des Cut-outs und der Arbeit mit ihnen. Oftmals dem Bereich des Kunsthandwerks zugeordnet, ist die Technik des Scherenschnitts auch in Kunst und Kunstgeschichte etabliert – prominente Beispiele finden sich etwa in Arbeiten von Philipp Otto Runge (1777–1810) oder den Scherenschnitten von Henri Matisse. Werke, in denen Scherenschnitte in Verbindung mit Fragen nach Raum und Rastern eingesetzt werden, begegnen einem beispielweise bei Katharina Hinsberg (* 1967) oder – auf andere Weise – bei Annette Schröter (* 1956). In den Arbeiten Lena von Goedekes hat sich die Silhouette von der Darstellung narrativer oder figürlicher Motive gelöst; der Cut-out tritt hier in Beziehung zu anderen Medien und Disziplinen, etwa der Malerei, oder dringt bis in skulpturale Bereiche vor. So zeigen die Werke einen komplexen und vielschichtigen Umgang mit der Technik des Schnitts, der eine eigene ästhetische Logik auf Basis strukturgebender Verfahren entwickelt: Papier beziehungsweise Holz imitierende Flächen offenbaren filigrane Schemata und Muster, die einer zunächst nicht bestimmbaren, mitunter ornamentalen, modellierten oder analog-natürlichen Ordnung zu folgen scheinen. Das Prinzip der Struktur-, Muster- und Rastergenerierung mittels Software mit anschließender Materialreduktion via Schnitt setzt sich auch in der Bearbeitung anderer Materialien fort, etwa im Lasern von Packdecken (siehe This Summer I und II) oder beim Ausfräsen von Holz (siehe Box.dfx). Geschnitten werden Flächen (→ Oberfläche), deren softwaregenerierte Muster respektive Raster Räumlichkeit suggerieren (→ Täuschung) und hervorbringen, oder scheinbar unkoordinierte Verläufe, etwa visualisierte Wegstrecken (siehe This Summer I und II), die im Zuge einer Ausstellungsvorbereitung von der Künstlerin zurückgelegt wurden (→ Ökonomie). Das Prinzip des Ausschneidens wird aber nicht nur auf Oberflächen bezogen, sondern zugleich auf Objekte erweitert, sodass neben räumlicher Suggestion auch reale Räumlichkeit einbezogen wird. Körperlichkeit Aspekte von Körperlichkeit werden in der künstlerischen Praxis Lena von Goedekes auf implizite Weise relevant. So tritt der → Schnitt in den Arbeiten nicht nur als Mittel der Struktur- und Formgebung hervor, sondern auch als präzise, bereits auf den ersten Blick disziplinierte Geste in Erscheinung, die den Künstlerinnenkörper und die Körpertechnik des Schneidens thematisiert. Und dies auf brisante Weise: Die disziplinierte Hand, der über das Papier gebeugte Körper der Künstlerin und das konzentrierte Auge „schneiden“ sich dem Werk gleichsam mit ein. Das Papier als fragiles Material verzeiht keine unkontrollierten Bewegungen beim (Aus-)Schneiden der in ihrer Anlage stabilen vorgezeichneten Strukturen; es erfordert einen Blick für Silhouetten entlang an Kanten und Geraden, Kurven und Formen. Diesem Schaffensprozess oftmals stundenlang ausgesetzt, reflektiert die Künstlerin ihre Arbeitspraxis auch in ihrer Komplizenschaft zu den von ihr verwendeten Utensilien, die im Vollzug des Schneidens zum Einsatz kommen und mit Händen, Augen und Körperhaltung zusammenspielen: Ein Schneidebrett aus Glas mit schwarzlinigem Raster, das sich an einer Stelle in Chaos und Tumult verwandelt (→ Systemfehler), deutet das immanente anarchische, unkontrollierbare und ungezähmte Moment dieses zunächst präzisen, akkuraten und disziplinierten Akts des Schneidens an.
Schönheit Muster, Schemata und Verteilungen als den Arbeiten zugrunde liegende Prinzipien und – weitergehend – als Prinzipien jeglichen Seins in Form von dessen immanenten und fundamentalen Ordnungen verweisen auf den in Philosophie, Kunst und Naturwissenschaften viel diskutierten Begriff Schönheit, der den Werken Lena von Goedekes zugeschrieben werden kann. Gleichwohl bedeutet dies keineswegs eine Reduktion auf Dekoratives. Ganz im Gegenteil! Besonders in Verbindung mit den Begriffen Raster und Modell, die immer wieder auf verschiedene Weise hervortreten, rücken die Arbeiten in die Nähe von idealen natürlichen und artifiziellen Ordnungen und Strukturfindungen, die erst auf den zweiten Blick Abweichungen, organische Spuren und Unregelmäßigkeiten einbeziehen (siehe Kenzo). Hierin lässt sich ein gleichsam ontologisches Moment ausmachen, das Schönheit in der Welt und ihren Gefügen als kontingent sowie prozessual verortet, indem sie sich besonders und immer wieder an ihren → Oberflächen zeigt. Schönheit lässt sich in diesem Kontext auch auf bestimmte ästhetische Prozesse beziehen, etwa den Umgang mit hochwertigen wie profanen, dabei jedoch exponierten Materialien. Ihnen werden im künstlerischen Prozess mitunter glanzvolle und virtuose, aber auch prekäre und fragile Eigenschaften entlockt (→ Wert): Der Glanz und die Reflexionen des Kupfers (siehe Prototypen) werden Bestandteile des Bildhaften; Marmor mit seinen eigenen morbiden Fließgefügen wird als Bodenskulptur in Form von aufeinanderfolgenden Splittern an- beziehungsweise umgeordnet (siehe One more dedicated peaceful moment); die mittels Malerei geradezu idealisierte Schönheit von Holz zelebriert in papierenen Schnitten dessen visuell-materielle Eigenschaften und Besonderheiten in Form von Maserungen und Patina; die der Schwerkraft unterliegende Verteilung von Zementsand auf einer Kompaktplatte bringt monochrome, in ihrer Form zugleich hochkomplexe und eigentümlich anmutende Miniaturlandschaften hervor (siehe Zombies), die Schönheit auch in vermeintlich zufälliger Verteilung offenbar werden lassen.
Täuschung Täuschung ist in den Arbeiten Lena von Goedekes nicht nur als Materialtäuschung im Sinne des Faux bois, sondern auch im Grenzbereich zur optischen Täuschung und als Spiel mit Erwartungen bedeutsam. Durch die Anordnung und scheinbare Überlagerung ausgeschnittener Strukturen entsteht der Eindruck von Tiefe respektive Raum, der hervorkommt – oder in den man hineingezogen wird. Auch im Umgang mit scheinbar ihrer „natürlichen“ Anordnung folgenden Materialien, etwa Marmor, den die Künstlerin in Fragmenten am Boden platziert, wird mit vortäuschenden Effekten gearbeitet: So scheinen die weißen Linien der schwarzen Marmorsplitter der Arbeit One more dedicated peaceful moment nicht ganz dem ursprünglichen Fließgefüge des mineralischen Gesteins zu entsprechen und dennoch wird es als eines erkennbar. Auch wird die Verwendung bestimmter Medien in den Werken vorgetäuscht, zum Beispiel durch besonders präzise Zeichnungen (→ Schönheit), die durchaus fotorealistische Qualitäten annehmen können. In der Arbeit You are unique glaubt man zunächst, eine Fotokopie zu sehen, und dann ist auf den zweiten Blick doch wieder alles anders … Simulation, Fiktionalität und Realität gehen so ineinander über: Materialien und Medien, Flächen (→ Oberfläche) und Räume erscheinen zunächst als eines und geben sich erst auf den zweiten Blick – wenn überhaupt – als etwas anderes zu erkennen. Auf diese Weise geraten scheinbar feste, hypostasierte, vertraute Ordnungen ins Wanken und setzen sich selbst sowie diejenigen, die sich in sie hineinbegeben und auf sie einlassen, in gedankliche Bewegung.
Wert Die Arbeiten Lena von Goedekes nehmen in ihren technischen und (kunst-)handwerklichen Verweisen Um- und Aufwertungen vor: Der Scherenschnitt als (kunst-)handwerkliches Verfahren sowie Glaskunst à la Tiffany werden nicht weiter als Medien zur Darstellung dekorativer Motive eingesetzt, sondern aus solchen traditionellen Verwendungen herausgelöst und zugleich in diesen ernst genommen (siehe Remote Sensing I und II). Das Spannungsverhältnis liegt dabei in den formgebenden und ästhetischen Potenzialen historischer sowie zeitgenössischer Techniken und Materialien kombiniert mit aktuellen Visualisierungstechnologien (→ Postdigital): Generiert werden computerbasierte und danach manuell realisierte ästhetische Muster, Schemata und Strukturen, die Dynamik erzeugen, Raum konstituieren (→ Schönheit) und zu einer scheinbar omnipräsenten und überzeitlichen Ordnung „hinter den Dingen“ transzendieren (→ Kosmos). Die künstlerische Praxis Lena von Goedekes oszilliert dabei zwischen manueller Arbeit mit intensivem körperlichen Einsatz beziehungsweise Handarbeit, industriellen Produktionstechniken, die hier jedoch keine Massenware erzeugen, und der Arbeit am Bildschirm mit Software der 3-D-Modellierung. Vor dem Hintergrund des Einsatzes (kunst-)handwerklicher Verfahren wird die Wertigkeit von Arbeit und Arbeitszeit thematisiert – so wird beispielsweise das Schneiden auch als langwierige, intensive und körperlich anstrengende Tätigkeit relevant (→ Körperlichkeit). Zudem erfordert es enorme Konzentration. Auch das Verhältnis von Kunst und Handwerk wird reflektiert, so etwa in der großformatigen ortsspezifischen Holzmalerei MEM, die auf die Aufwertung von Imitationen durch Kunst in Relation zum Originalmaterial und dessen technisch-funktionaler Bedeutung anspielt: Was ist wertvoller? – Von einem Steinbrecher geborgener oder von einem Künstler gemalter Marmor? Platziert ist dieses gemalte hölzerne Marmorimitat in einer baulichen Umgebung, der NRW.BANK Münster, deren Architektur ebenfalls das „Faken“ von Materialien aufgreift. Reflexiv wird Arbeit beziehungsweise das Arbeiten im Kontext der bildenden Kunst in ihrer Wertigkeit in den Werken selbst thematisiert, etwa in Form zurückgelegter Wege (This Summer I und II), von Transportmöglichkeiten (Box.dfx) oder des Vorhandenseins ökonomischer Ressourcen (→ Ökonomie). Wert erweist sich auf diese Weise vielmehr als Wertigkeit, die sowohl profane ökonomische, in ihren Techniken zeitlich verortete als auch idiosynkratrische ästhetische Facetten annehmen kann. Auch die Schnitte Certificate fragen nach der Aufwertung von Materialien und Flächen durch künstlerische Autorschaft und Signatur: Ein eingeschnittener Fingerabdruck der Künstlerin lässt das Papier Bild und das Bild Kunst werden, die ihre Praxis der Auratisierung zugleich reflektiert.
Systemfehler Den Mustern, Schemata, Rastern und Strukturen liegen verschiedene Systematiken zugrunde, die auf grundlegende Prozesse des Seins und Werdens referieren (→ Kosmos). Referenzsysteme können die Naturwissenschaften, Architektur oder digitale Phänomene sein, die fundamentale Systematiken in Modellierungen und Darstellungen visualisieren. Diesen sichtbar gemachten Ordnungen begegnen die Arbeiten Lena von Goedekes wie auch ihre Arbeitsweisen im künstlerischen Vollzug einmal mit Planung und Präzision im Herausarbeiten von Verläufen durch Schneiden, Löten, Fräsen oder Lasern, aber auch mit Strategien des Zufalls in der Erzeugung dessen, was sich an Strukturen und Unstrukturiertheiten (→ Systemfehler) offenbaren kann. Das Arbeiten mit verschiedenen softwarebasierten Programmen bedeutet in gewisser Weise auch die Abgabe von Kontrolle in Bezug auf die Strukturen und Formen, die von Algorithmen generiert und freigegeben werden. Vermeintlicher Zufall und evoziertes Chaos produziert durch Software, aber auch durch die Widerständigkeit des eigenen Körpers (→ Hybridität) setzen Potenziale für Irritationen frei (→ Irritation), denen die Künstlerin wiederum mit planvoller Ausführung, technischem Knowhow und ästhetischer Intuition begegnet. Das Hybride der Arbeiten (→ Hybridität) entwickelt sich somit auch durch die Reziprozität zwischen der Perfektion von Strukturen und der Integration von Fehlern, die an verschiedenen Stellen im Arbeitsprozess entstehen können – und sollen. Auf diese Weise wird ein dialektisches Verhältnis (→ Dialektik) zwischen Modell und Realisierung beziehungsweise zwischen Virtualität und Materialität erkennbar, wobei Programmfehler, unkontrollierte und Spuren hinterlassende Körperbewegungen, widerspenstige Materialien und unberechenbare Werkzeuge gegen eine simulierte hyperästhetische Welt perfektionistischer universeller Ordnung(en) opponieren. Zudem führen Systemfehler dazu, dass keine totale Wiederholbarkeit entsteht: Jede Arbeit ist ein Unikat.
Postdigital Der Begriff in seiner nicht unkomplizierten Verwendung trifft hier auf Werke, die ihm ihre eigene Logik zuschreiben: Lena von Goedeke kombiniert Techniken der Vergangenheit, historische Verfahren und (kunst-)handwerkliches Wissen mit technologischen und informatorischen Strategien der Gegenwart sowie der Zukunftsentwicklung. Das Digitale wird dabei nicht als Futurismus zelebriert, sondern findet seine Berechtigung erst in seiner zeitlichen Verortung sowie in Kombination mit dem Analogen und Manuellen, die wiederum als zeitgenössische Möglichkeiten reaktiviert werden. Materielle und digitale Dimensionen (→ Hybridität) werden in ein dialektisches Verhältnis (→ Dialektik) überführt. Handwerk, Alterung und Patina treten in Kontakt mit computergenerierten, glatten, gerasterten Oberflächen sowie konsistenten Modellen und Schemata, die wiederum von Köpern (→ Körperlichkeit) und ihren Unberechenbarkeiten irritiert werden (→ Irritation). In diesem Sinne kann man auch von einer postalgorithmischen Logik sprechen, die den Werken inhärent ist. Mensch, Material und Algorithmus bilden Agenten des Werkprozesses, ohne dass innerhalb dieser Trias eine eindeutige Vormachtstellung identifizierbar wäre – im Gegenteil: Erst im Prozessieren aller drei Entitäten entstehen Spannungsmomente und Ambiguitäten zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Systematik und Unterbrechung, zwischen Redundanz und Einzigartigkeit. Drahtgittermodell Drahtgittermodelle dienen der Darstellung von Körpern auf Basis von Kanten und sind in der Computergrafik beziehungsweise in der 3-D-Modellierung etabliert. Ihr Prinzip ist das einer universellen Modellierbarkeit bei unendlicher Skalierung: Alles Geometrische und Räumliche ist auf diese Weise darstellbar, indem es in Vektoren überführt wird. Alles ist in seinen kleinsten Einheiten bis hin zu unendlichen Größen möglich. Landschaften und Körper in ihren Volumina sowie Oberflächen (→ Oberfläche) werden im Hinblick auf ihre linearen Strukturen purifiziert und in ihrer mathematischen Dimension visualisiert – das Visuelle wiederum wird berechenbar und kann sich prinzipiell ins Unendliche ausdehnen (→ Kosmos). Das Prinzip des Drahtgittermodells liegt vielen der Arbeiten Lena von Goedekes zugrunde, ob als Mittel der Struktur- und Formgenerierung oder der Abstraktion. Das Ausgehen von Drahtgittermodellen verleiht den Arbeiten Stabilität, da sich die Künstlerin auf die algorithmisch generierten Strukturen in ihrer statischen und kontinuierlichen Logik verlassen kann – die computergenerierten Modellierungen werden gleichsam zu Komplizen der künstlerischen Praxis (→ Hybridität). Das (Künstler-)Subjekt selbst wird dabei dezentriert und in einen Prozess implementiert, der Algorithmen und Mensch, Anorganisches und Organisches, Virtuelles und Reales dialektisch begreift (→ Dialektik).
Irritation Das irritative Moment der Arbeiten Lena von Goedekes liegt besonders in ihrer Subtilität. Mit präzisen Details machen die Werke Ordnungen sichtbar und bringen diese zugleich ins Wanken, beziehen Vorhandenes ein und fügen diesem etwas hinzu. Materialwertigkeiten werden hinterfragt, Verfahrenskombinationen lassen verschiedene Zeiten in Kontakt treten und Eingriffe in den Raum exponieren diesen in seiner eigenen ästhetischen Präsenz. Beispielhaft für Letzteres ist die Installation Dustjacket, die in den Raum – hier den Atelier- und Ausstellungsraum – interveniert: Die scheinbare Fortführung des weiß getünchten Mauerwerks der Atelierwand etabliert eine Rundung zum grauen Boden und versetzt das eigentlich rechtwinkelig definierte Wand-Boden-Verhältnis temporär in Bewegung. Das Atelier wird hierbei modifiziert und in seiner Räumlichkeit transformiert, wobei der Raum im Zuge dieses Eingriffs nicht als Ausstellungsraum funktionalisiert wird, sondern als solcher vielmehr Material und Teil der künstlerischen Arbeit ist, die sodann keinen Anfang und kein Ende hat. Auch das Hervorbringen von Materialirritationen (→ Täuschung) in ihren papierenen Schnitten (→ Schnitt) lässt sich als bewusste Strategie der Arbeiten Lena von Goedekes begreifen: Durch die Material beziehungsweise Holz imitierende Malerei wird Holzschnitt als Scherenschnitt denkbar, sodass tradierte Medien und Verfahren gleichsam auf den Kopf gestellt werden. Auf diese Weise entsteht allgemeiner gesprochen ein Spannungsfeld, das einerseits von Ordnungen in Form wiederkehrender Logiken und Muster ausgeht, andererseits aber auch subversives Potenzial freisetzt, um etwaige Ordnungen als kontingent und dynamisch anzuerkennen (→ Systemfehler). In der Serie Kenzo wird die Künstlerin selbst zum Störmoment (→ Systemfehler, → Körperlichkeit, → Schönheit), indem sie in das computergenerierte Raster Irritationen in Form maschinell erstellter Zeichnungen mit einbringt. Ähnlich wie in der Arbeit Minus wird auch in den Maschinenzeichnungen der Serie Kenzo die Erzeugung von Fehlern als konstitutiv für die Perfektion jeglicher Systematik deutlich: Die computergenerierten Raster werden durch Einflüsse der Künstlerin gestört, die der Gleichmäßigkeit und Vorhersehbarkeit Chaos und Zufälligkeit entgegensetzt, etwa durch das Herbeiführen von Erschütterungen in der Nähe der Maschine. Das ästhetische Moment geht hier nicht auf in maschineller Perfektion, sondern löst sich vielmehr auf in eigenwilliger Subversion.
Dialektik Die Arbeiten Lena von Goedekes folgen vielmehr einer dialektischen als einer dualistischen Logik im Umgang mit Kategorien wie Natur und Technik, Vergangenheit und Zukunft, Zeit und Raum, Ordnung und Chaos (→ Täuschung). Natürliche Strukturen werden durch Technik und Technologien visualisiert, Technik und Technologien wiederum von Natur induziert und inspiriert – das Artifizielle und das Natürliche stehen sich hierbei nicht gegenüber, sondern gehen für die menschliche Wahrnehmung überhaupt erst auseinander hervor. Wildes und Strukturiertes tangieren sich. Tradierte und in der Kunst mitunter eher als handwerklich marginalisierte Verfahren, etwa bei Tiffany, treffen auf zukunftsorientierte virtuelle 3-D-Modellierungen und lösen vermeintlich Widersprüchliches in Kooperation auf (→ Hybridität) – auch in Bezug auf historische und zeitgenössische Medien, Verfahren und Perspektiven wird hier eine Haltung eingenommen, in der sich Altes und Neues, Tradition und Innovation gegenseitig bedingen (→ Postdigital). Die in den Werken Lena von Goedekes erkennbare Disposition des Übersetzens von Vergangenheit und Zukunft in Gegenwart lässt Raum und Zeit vielmehr als im Prozess befindliche, dynamische, zum Teil organische Ordnungen hervortreten, denn als epochale oder statische Entitäten.
Ökonomie Die Werke Lena von Goedekes reflektieren nicht selten auch ihre eigenen Entstehungsbedingungen einschließlich der mit Arbeitseinsatz verbundenen ökonomischen Implikationen. Wege, die zurückgelegt werden, lassen sich in Muster übersetzen, Volumina künstlerischer Produktion werden als transportables Format sichtbar. Die Konditionen, unter denen sich künstlerische Arbeit sowie Materialverarbeitung vollziehen, gehen in die Werke ein. Was bedarf es für eine Ausstellung? Welche Distanzen legen Werke, Dinge, Materialien und Künstlerinnenkörper zurück? Welche materiellen und immateriellen Ressourcen kommen wie zum Einsatz und welche Zustände entwickeln sich zwischen den Polen Entspannung und Erschöpfung, Privileg und Ausbeutung? Diesbezüglich lassen sich die Arbeiten auch auf zeitgeistige Phänomene beziehen, etwa Arbeit zwischen (Hyper-)Kapitalismus und Freizeitoptimierung, oder in Bezug auf den Einzelnen zwischen Erschöpfung und Entspannung. So rekurriert etwa die Rauminstallation mit dem Titel (Unfinished) Monkey Business auf ebendieses Oszillieren der physikalischen Kräfte, Energien, Widerstände und (begrenzten) Ressourcen: Die Keramikblöcke, die auf dem im Sinne einer Matte ausgelegten Sternennebel-Motivteppich drapiert sind, verweisen auf Yogablöcke, in die sich der Körper der Künstlerin (→ Körperlichkeit) gleichsam im Vollzug einer Entspannungsübung kurz vor dem Moment des Wegrutschens eingeprägt hat. Auch der Materialaspekt wird in den Werken vor dem Hintergrund ökonomischer Dimensionen befragt: Welche Wertigkeiten konkurrieren und kooperieren (→ Wert) dabei? Insbesondere die subtilen Eingriffe in Ausstellungsräume wie bei Maneuver, aber auch die Schnitte in ihrer Analogie zum Trompe-l’Œil (→ Täuschung) entziehen sich auf den ersten Blick einer offensiven Teilnahme an der im Kunstbetrieb geforderten Ökonomie der Aufmerksamkeit – dezent und leise halten sie sich zunächst zurück – einmal erblickt, bündeln sie jedoch den Blick: Raum und Flächen als ästhetische und überzeitliche Phänomene treten hervor (→ Schönheit).
Kosmos Die Arbeiten Lena von Goedekes eröffnen einen Kosmos von Mustern und Schemata, Strukturen und Modellen, in dem Landschaften und Architekturen, Ornamente und Bewegungen, Räume und Flächen in ästhetische Prozesse und Werke übersetzt werden. Räume und Oberflächen treten in Kontakt und designen eine gleichsam vierte Dimension, in der Objekte und Bilder ineinander übergehen. Aus einer scheinbar natürlichen Logik generieren sich räumliche und zeitliche Prozesse, die das Sein auf eine variable und als kontingent denkbare Ordnung zurückführen, die an Oberflächen und in Räumen, in Form von Mustern sowie chaotischen Strukturen in Erscheinung tritt. Nachvollziehbar wird dies einmal anhand modellhafter sowie zudem vermeintlich zufälliger und doch stabiler Strukturen (→ Drahtgittermodell), zum anderen im Umgang mit Kräften der Verteilung, wie sie beispielsweise die Schwerkraft bewirkt. So etwa in der Arbeit Zombies, bei der aufgeschütteter Zementsand auf einer gleichsam schwebenden Platte eine Landschaft entwirft, die keiner weiteren Intervention und Domestizierung bedarf – jeder einzelne Partikel scheint der Logik der Schwerkraft zufolge genau dort angeordnet zu sein, wo sein Platz ist. Auch bei (Unfinished) Monkey Business spielt dieses zufällige und doch von Gravitation bestimmte Positionieren und Bewegen von Körpern (→ Körperlichkeit) im kosmischen Raum eine Rolle: Ein heimeliger Teppich mit Sternenstaubmotiv stellt das Universale zwinkernden Auges wiederum auf die Füße. Ein grundlegendes ästhetisches Moment (→ Schönheit) der Arbeiten Lena von Goedekes lässt sich demnach in der Balance zwischen Erweiterung und Reduktion, zwischen Intervenieren und Aushalten, zwischen Ein- und Ausschneiden sowie (Vor-)Finden, zwischen Ganzheit und Fragment identifizieren, wobei all diesen Vorgängen scheinbar eine universelle Ordnung zugrunde liegt, die unendliche Variationen von Mustern, Rastern und Schemata bereithält.