Lena von Goedeke & Thomas Wrede
Als Kryal wird in der Ökologie der Lebensraum Schnee und Gletscher bezeichnet. Besiedelt wird hauptsächlich älterer Schnee und dies besonders in den Klimaregionen, in denen Schnee und Eis länger erhalten bleiben – den Polar- und Hochgebirgsregionen.
Das Otto Modersohn Museum Tecklenburg lädt mit der Bildhauerin Lena von Goedeke und dem Fotografen Thomas Wrede zwei Zeugen der Transformation und des Verschwindens dieses einzigartigen und fragilen Lebensraumes ein, ihre auf zahlreichen Recherchereisen in das Eis der Arktis und der Alpengletscher entstandenen Werke im Dialog zu präsentieren.
Beide Künstler mit Wurzeln und Studio in Münster beschäftigen sich seit 2017 intensiv mit den besonderen Herausforderungen und landschaftlichen Transformationen, vor denen der Mensch durch das selbstverschuldete Verschwinden der Eiswelten unseres Planeten steht - seien es die globalen, klimatischen Auswirkungen, die lokalen Veränderungen der Biosphäre, die bizarr anmutenden Rettungsversuche oder der unmittelbare Einfluss auf den menschlichen Körper. Ihre Arbeit kann nur durch den Blick und die physische Erfahr-ung vor Ort entstehen, so dass die Werke der Ausstellung Kryal direkte Zeugnisse der verheerenden Zustände dort, wo sich unsere Welt im Wandel befindet, und authentische wie aufwühlende Zeitdokumente des Anthropozäns darstellen. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf der seltsam inszenierten, ästhetischen Qualität des Verfalls der Alpengletscher, schön, ohne Klischee zu sein; und auf der sensiblen Sichtbarmachung einer real existierenden arktischen Lebenswelt fernab eines arctic imaginary.
Der Lebensraum Kryal ist erst durch sein Verschwinden in der kollektiven Wahrnehmung, medialen Verbreitung und Popkultur angekommen. Insbesondere die inzwischen verinnerlichte Endlichkeit des sogenannten ewigen Eises hat in den vergangenen Jahren zu einer deutlichen Zunahme eines climate change tourism geführt. Damit wurden die kalten Lebensräume nicht nur in den Alpen zu einer Attraktion, die Mehrwert generiert; anstatt als wesentlicher Teil unserer globalen menschlichen Biosphäre verstanden zu werden - der nur lebt, wenn wir ihm fernbleiben - ist das faszinierende Blau des jahrtausendealten Eises überall auf dem Planeten nun ein wirtschaftliches Gut, das es zu erhalten gilt.
Thomas Wrede und Lena von Goedeke nähern sich der fragilen Schönheit und inszenierten Landschaft von zwei Polen: während der Fotograf die befremdliche ästhetische Qualität der sterbenden Gletscher der Alpen, die abgedeckt und verpackt werden, um sie als Marktwert zu schützen, in immersiven Panoramen und sensiblen Details sowohl festhält als auch entlarvt, hinterfragt die Bildhauerin ihre Erfahrungen auf diversen Expeditionen im Hinblick auf Wahrheit und sozial-mediale Inszenierung der Arktis als Ausdruck des Unwiederbringlichen. Dabei ist der individuelle künstlerische Blick und die extreme körperliche Erfahrung im Kontakt mit dem Lebensraum, der nicht unserer ist, wesentlicher Bestandteil einer Neubewertung scheinbar gewohnter Bilder der Gletscher unseres Planeten. Mit der Ausstellung Kryal schaffen die reisenden Künstler Einblicke und Erkenntnisse in das Unzugängliche, Unverfügbare des Eises, die fernab immer wieder reproduzierter Klischees mahnen und für die Zukunft konservieren.